Wenn die Angst einzieht

Gastautorin Lea Klingberg  – 23. Juni 2021

Lea Klingberg

Jede vierte Frau in Deutschland erfährt in ihrem Leben häusliche Gewalt. Unter Akademikerinnen ist die Zahl noch höher. Um ihre Geschichte zu erzählen, hat Lina* sich an die critica gewandt. Sie möchte zeigen, dass Gewalt auch da vorkommt, wo wir sie nicht erwarten.

Linas Freund schubste sie zuletzt so heftig, dass sie ein paar Schritte stolperte und fast die Treppe herunterstürzte. „Beim nächsten Mal rufe ich die Polizei!“, schleuderte sie ihm entgegen. Er erwiderte: „Beim nächsten Mal kannst du das nicht mehr“. Weil sie kurze Zeit später wegzog und die Beziehung beendete, gab es kein nächstes Mal.

Lina ist Studentin und hat in ihrer letzten Beziehung Gewalt durch ihren Ex-Freund erfahren. Sie war 18 Jahre alt und frisch von zuhause ausgezogen, als sie mit ihrem damaligen Kommilitonen zusammenkam. Er war Anfang 20. Die Beziehung hielt zwei Jahre.

Schnell merkte sie, dass er ein Aggressionsproblem hatte. Beim Zocken verlor er die Kontrolle und schrie herum, was Lina Angst machte. Die Beiden stritten über Kleinigkeiten, häufig, nachdem sie ihn kritisiert hatte. Trotzdem zogen sie nach einigen Monaten zusammen. Für Lina überwogen die guten Momente: „Wenn wir uns gestritten haben, war er wie ein anderer Mensch“. Deswegen sagte die junge Studentin sich, dass er es nicht so meine.

Mit der Coronakrise steigt die Gefahr für häusliche Gewalt. Bild: YouTube (Ausschnitt)

Kurze Zeit später kam es zur ersten körperlichen Auseinandersetzung. Während eines Streits packte ihr Freund Linas Arme so fest, dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. Aus Ausnahmen wurden Regelfälle, bis er bei jeder der zahlreichen Streitigkeiten Gewalt anwendete. „Wenn ich versucht habe, mich zu wehren, hat er noch fester zugepackt, bis ich nichts mehr machen konnte. Er hat mir immer wieder zu spüren gegeben, dass er die stärkere Person ist“, betont sie. Dazu kam verbale und psychische Gewalt, bis hin zu Suiziddrohungen seinerseits. Die Schuld für den ständigen Streit gab er Lina.

Jede vierte Frau in Deutschland hat im Lauf ihres Lebens schon einmal Gewalt durch ihren aktuellen oder ihren Ex-Partner erfahren. Im universitären Umfeld erwarten wir ein solches Ausmaß an Übergriffen nicht. Dabei sind Akademiker*innen sowohl unter den Tätern als auch Opfern überrepräsentiert – die Gewalt wird hier lediglich besser verschleiert, schreibt das Magazin jetzt. Stattdessen wird angenommen, es handele sich um ein Problem von ökonomisch Abgehängten und Migrant*innen. Dass hier eher Gewalt erwartet wird als im akademischen Umfeld, ist ein Symptom unserer klassistischen Gesellschaft.

Weil es sich bei häuslicher Gewalt unter Akademiker/innen noch immer um ein Tabuthema handelt, werden Hilfsangebote von ihnen seltener angenommen. Die Angebote sprechen zudem eher Erwachsene an. Junge Betroffene gestehen sich häufig nicht ein, dass es häusliche Gewalt ist, die ihnen widerfährt. Deswegen müssen Hilfen bei ihnen an anderer Stelle ansetzen. Aufgrund der fehlenden Sensibilisierung im akademischen Umfeld und ihrem jungen Alter können Student*innen also leicht durch das Raster fallen.

Lina war es wichtig, nach außen hin den Schein zu wahren. „In etwa so, wie wenn man die Wohnung aufräumt, bevor die Eltern vorbeikommen. Man versucht auszustrahlen, dass alles in Ordnung ist“. Gleichzeitig zog zuhause die Angst ein: „Wenn er wütend war, bekam er einen kompletten Tunnelblick. Wenn ich länger mit ihm zusammengeblieben wäre, wäre sicher Schlimmeres passiert“. Im Gespräch mit einer Freundin öffnete sich Lina schließlich und beendete die Beziehung kurz darauf. „Hätte ich es nicht geschafft, mich ihr anzuvertrauen, wäre meine Geschichte anders verlaufen“.

Lina spricht darüber, was ihr passiert ist, um anderen Betroffenen Mut zu machen, sich Hilfe zu suchen. „In der Beziehung dachte ich immer, so ein Verhalten sei normal. Aber es ist nicht normal!

Ich bin die Studentin von nebenan. Wie hoch die Dunkelziffer von Betroffenen häuslicher Gewalt ist, will ich mir nicht vorstellen“.

*Um Lina zu schützen, nennen wir ihren richtigen Namen nicht.

Bist du oder jemand in deinem Umfeld von häuslicher Gewalt betroffen? Beim Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ bekommst du jederzeit Hilfe. 08000 116 016

Dieser Beitrag erschien in gedruckter Form in der Critica. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers. Bilder und Bilduntertexte wurden ganz oder zum Teil von der Redaktion »RoterMorgen« hinzugefügt.
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Die »GruppenRotePublisher« möchte eine Diskussion über die Ursachen von häuslicher Gewalt beginnen. Bitte schreibt unten über Eure Meinungen, Erfahrungen und Einschätzungen. Interessant wäre zu wissen, wie weit die gesellschaftlichen Verhältnisse häusliche Gewalt fördern und was wir gemeinsam dem entgegensetzen können.


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5 Kommentare

  1. Gibt es denn Hinweise darauf, woran es liegen könnte, dass das Häusliche Gewalt bei Akademiker/innen vermehrt vorkommt? Man würde ja erstmal davon ausgehen, dass belastende Faktoren wie Arbeitslosigkeit, Mieterhöhungen, Probleme, die zu Gewalt führen könnten, hier im Schnitt seltener vorliegen.

  2. Häusliche Gewalt zeigt sich in vielen Formen: Neben körperlicher Gewalt fällt auch sexuelle oder psychische Gewalt innerhalb einer bestehenden oder beendeten häuslichen Gemeinschaft bzw. Partnerschaft darunter; also zum Beispiel in einer Ehe, einer eingetragenen Lebenspartnerschaft oder einer nicht-ehelichen Lebensgemeinschaft. Für die Betroffenen ist besonders belastend, dass die Übergriffe in einer Umgebung wie beispielsweise ihrem Zuhause stattfinden, die eigentlich geschützt sein sollte. Partnerschaftsgewalt passiert in der eigenen Wohnung, aber auch in der Öffentlichkeit. Auch wenn mehr als 80 Prozent der Betroffenen häuslicher Gewalt Frauen sind, betrifft häusliche Gewalt auch Männer.

  3. Ich hab gerade dieses gefunden:

    Häufig ist häusliche Gewalt ein Komplex aus sexualisierten, körperlichen und psychischen Gewalthandlungen, die ineinander greifen. Jede vierte in Deutschland lebende Frau hat häusliche Gewalt erfahren. Die Hälfte der Frauen, die seit ihrem 16. Lebensjahr körperliche oder sexualisierte Gewalt erlebt haben, haben diese durch den (Ex-) Partner erfahren.
    Im Jahr 2018 wurden von Frauen über 114.000 Fälle von Gewalt durch ihre Partner oder Ex-Partner bei der Polizei zur Anzeige gebracht. Im Jahr 2018 wurden 122 Frauen von ihrem (Ex)Partner getötet.

  4. Ich habe auch etwas gefunden, es geht um die Gewaltspirale:

    Gewalt in Partnerschaften und im sozialen Nahraum kann ganz unterschiedliche Formen annehmen ‒ doch meist entwickelt sie eine ähnliche Dynamik. In der Regel handelt es sich keineswegs um einzelne, isolierte Gewalttaten, eher kann von einer Gewaltspirale gesprochen werden. Diese verläuft in vier Phasen, die in immer kürzeren Abständen und mit zunehmender Intensität aufeinander folgen. Eine besondere Rolle spielen dabei Phasen der Versöhnung und der vermeintlichen Harmonie, die immer wieder die Hoffnung auf eine gewaltfreie gemeinsame Zukunft wecken.

    Der typische Ablauf der Gewaltspirale:

    Phase 1: Spannungsaufbau. Die Tatperson baut über einen längeren Zeitraum hinweg mit psychischer Gewalt eine belastende, angsterfüllte Atmosphäre auf. Die Betroffene handelt zunehmend unfrei. Sie richtet ihr eigenes Verhalten immer stärker darauf aus, keinen Anlass für Wutausbrüche oder Streit zu bieten und es dem Gegenüber „recht zu machen“. Eigene Bedürfnisse geraten dabei in den Hintergrund. Häufig macht sich die betroffene Frau selbst für die Situation verantwortlich: „Hätte ich nur (nicht)…“.

    Phase 2: Ausbruch physischer Gewalt. Die langanhaltende psychische Gewalt gipfelt in einem kürzeren Ausbruch physischer Gewalt. In dieser Phase sind betroffene Frauen und ihre Kinder besonders gefährdet, körperlich schwer verletzt zu werden. Unmittelbar nach dem Gewaltakt überwinden sich Betroffene oft dazu, erste Schritte zum eigenen oder zum Schutz der Kinder zu gehen.

    Phase 3: Ruhe, Reue, Zuwendung. Typischerweise bemüht sich die Tatperson im Anschluss an einen Gewaltausbruch um Aussöhnung und Beschwichtigung. Oftmals verhält sie sich dann besonders liebevoll, entschuldigt sich, zeigt Reue und versichert, dass es sich um einen Ausnahmefall gehandelt habe, der nicht wieder vorkommen werde. Bei vielen Betroffene löst dieses Verhalten die Hoffnung auf eine Verbesserung der Situation aus, sodass sie der Beziehung eine weitere Chance geben. Damit wird der Weg für die Fortführung der Gewaltspirale geebnet.

    Phase 4: Abschieben der Verantwortung. Nach der versöhnlichen Honeymoon-Phase geht die Tatperson in der Regel dazu über, die Verantwortung für den Gewaltausbruch zu leugnen, sich zu rechtfertigen oder das Geschehene herabzuspielen. Eine Phase erneuter psychischer Manipulation beginnt.

    Die Gewaltspirale beginnt wieder bei Phase 1.

  5. Zu häuslicher Gewalt zählen nicht nur Schläge. Körperliche Gewalt ist nur eine Facette eines komplexen Verhaltensmusters, das umfassend auf Macht und Kontrolle zielt. Betroffene sind häufig auch psychischer Gewalt wie Demütigungen, Drohungen, Einschüchterungen, sozialer Isolation oder wirtschaftlichem Druck durch den Täter oder die Täterin ausgesetzt.
    Meistens beginnt häusliche Gewalt schleichend. Umso wichtiger ist es, Warnsignale frühzeitig zu erkennen. Anfangs ist der Partner oder die Partnerin vielleicht immer wieder launisch und aggressiv und „rastet schnell aus“. Dann können Beleidigungen, Demütigungen, Stimmungsschwankungen und seelische Grausamkeit in der Ehe oder Partnerschaft folgen. Der Partner oder die Partnerin reagiert möglicherweise eifersüchtig und beginnt damit, finanzielle Ausgaben, soziale Kontakte oder das Handy zu kontrollieren.

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