Vom Pöbel zum Proletariat

Volkskorrespondenz zum Wochened
Heinz Ahlreip – 18. März 2023

Heinz Ahlreip

Vier sozialistische Klassiker haben für die heutige Weltbedeutung der Dialektik als Weg revolutionären Denkens gesorgt. Ohne dialektisch zu denken kann man sich keine richtigen Revolutionsgedanken machen.  Das Schwergewicht liegt auf der während der Abfassung des Kapitals vorgenommenen Abgrenzung von der Hegelschen Methode durch Marx. 1888 war es Engels, der die Methode von Marx als unser seit Jahren bestes Arbeitsmittel und schärfste Waffe hochhielt (Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Werke, Band 21, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 291). Im Mai 1914 kündigte eine Aussage von Lenin bereits die hohe Entwicklungsstufe der materialistischen Dialektik von Marx an: Die Dialektik der Geschichte zwingt die Feinde des Marxismus, sich als Marxisten zu verkleiden. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an die brillante Studie Stalins über dialektischen und historischen Materialismus.  

108 Jahre davor war es indessen ein Idealist, dem 1806 mit der ‚Phänomenologie des Geistes‘ und 1812 mit seiner ‚Logik‘ der Durchbruch gelang, die allgemeinen Bewegungsformen der Dialektik in umfassender und bewusster Weise darzustellen. In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte drückt Hegel den Bedeutungsgehalt seines Zeitalters natürlich idealistisch mit den Worten aus, dass wir in einer entscheidenden Phase der Weltgeschichte stehen, in einer Gärung, durch die der Weltgeist einen Ruck nach vorne getan habe. Das war ein richtiges Gespür; aber inhaltlich war die entscheidende Phase ganz anders ausgefüllt als Hegel dachte. Die teilweise berechtigte Skepsis gegen die bürgerliche Aufklärung trieb ihn in der Phase der aufsteigenden technisch-industriellen Revolution zu einer in der Geschichte der Philosophie einzigartig dastehenden Restauration der Metaphysik. Eine Metaphysik konnte die Zeit nicht mehr prägen.  Man muss Hegel zugutehalten, dass er aus seiner Erkenntnis heraus, dass der Riss zwischen Individuum und Welt noch einmal durch das Individuum selbst hindurchgeht, theoretisch als Einiger fungierte. Seine Metaphysik sollte die Heilkraft enthalten gegen eine aus ihrem psychischen Gleichgewicht und aus ihren historischen Fugen geratenen Zeit. Gegenüber deren ideologischen Irritationen sah Hegel sich als Retter des Geistes in einer geistfeindlichen Zeit. Marx und Engels einigten anders: Das zu vereinigende Proletariat wird durch Aufhebung des Privateigentums die jahrtausendealte Klassenzerrissenheit der Gattung aufheben. Der Ausdruck `Vergesellschaftung des Privateigentums an Produktionsmitteln` fällt im Dezember/Januar 1847/48 geschriebenen Manifest noch nicht.  Es ginge, heißt es in ihm, nicht um die Aufhebung des Eigentums überhaupt, sondern um die des bürgerlichen Eigentums (Vergleiche Karl Marx, Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, Werke, Band 4, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 475). 

„Ihr entsetzt euch darüber, dass wir das Privateigentum aufheben wollen. Aber in eurer bestehenden Gesellschaft ist das Privateigentum für neun Zehntel ihrer Mitglieder aufgehoben, es existiert gerade dadurch, daß es für neun Zehntel nicht existiert. Ihr werft uns also vor, daß wir ein Eigentum aufheben wollen, welches die Eigentumslosigkeit der ungeheuren Mehrzahl der Gesellschaft als notwendige Bedingung voraussetzt. Ihr werft uns mit einem Worte vor, daß wir euer Eigentum aufheben wollen. Allerdings, das wollen wir. (aus Manifest der Kommunistischen Partei)

Marx und Engels konnten natürlich mehr erkennen als Hegel: Dass die technisch-industrielle Revolution mit ihrer Zusammenballung von Proletariermassen in künstlich und rasch hochgezogenen Fabrikstädten Vergesellschaftungsfragen zwangsläufig auf die Tagesordnung wird setzen müssen. Das Wort ‘Proletariat‘ kommt im Gesamtwerk Hegels nur einmal(!) an peripherer Stelle vor, nachhaltig ist im Gedächtnis ein anderes Wort geblieben durch den berühmten Satz aus dem Paragrafen 244 der Rechtsphilosophie, dass bei allem Reichtum der bürgerlichen Gesellschaft diese Gesellschaft nicht reich genug ist, die Armut des Pöbels zu steuern. Einen Ausweg aus, der der bürgerlichen Gesellschaft anhaftenden sozialen Katastrophe konnte, Hegel außer metaphysischen Trost nicht aufzeigen: “Was die Armut anbetrifft, so wird sie immer in der Gesellschaft sein, und je mehr, je größer der Reichtum gestiegen ist“. Die Entwicklung musste erst vom Pöbel Hegels zum Proletariat von Marx und Engels gehen, dieses kommt bei ihnen auf jeder zweiten Seite vor.

Im Zerstörungsprozess des überkommenen mechanischen Materialismus hatte bereits der französische Aufklärer Diderot mit der Auslegung des Weltprozesses als einer Gärung eine Art Erlösungswort als führender Vorkämpfer der Dialektik im 18. Jahrhundert ausgesprochen, ohne dass ihm aber die Erkenntnis der Bewegungsgesetze in dieser Gärung gelang. Auch heute stehen wir in einer entscheidenden Phase der Weltgeschichte, aber mit anderen politischen Koordinaten als zur Hegelzeit: Die demokratische Republik zieht Faszination auf sich aus ihrer Dialektik heraus, sie ist politisch vorteilhaft für den sozialistischen Sturz der Bourgeoisie und ist zugleich die beste politische Hülle, um den quantitativ, nicht qualitativ minimalen Klassenfeind vor dem allgemeinen öffentlichen Interesse zu verbergen. Das Wort vom allgemeinen öffentlichen Interesse im Maul bürgerlicher Juristen entbirgt nicht die kapitalistischen Volksfeinde, die hinter einem Vorhang auf Kosten der Massen prassen. Die demokratische Republik trägt ein Janusgesicht: Pseudooffenheit und Verschlagenheit. In diesem Zwiespalt leben wir. Man glaubt, den Klassenfeind nicht mehr greifen zu müssen, denn im Jargon der Eigentlichkeit kleinbürgerlicher und bürgerlicher Meinungsmacher wird das Wort vom Klassenfeind ausgegrenzt.
.

Erstveröffentlichung »Der Weg zur Partei« 18. März 2021. Eine Weiterveröffentlichung des Textes ist gemäß einer Creative Commons 4.0 International Lizenz ausdrücklich erwünscht. (Unter gleichen Bedingungen: unkommerziell, Nennung der verlinkten Quelle (»Der Weg zur Partei«) mit Erscheinungsdatum). Hervorhebungen und Verlinkungen wurden von der Redaktion Roter Morgen vorgenommen.

.
Über den Autor:
Heinz Ahlreip, geb. am 28. Februar 1952 in Hildesheim. Von 1975 bis 1983 Studium in den Fächern Philosophie und Politik an der Leibniz Universität Hannover, Magisterabschluss mit der Arbeit »Die Dialektik der absoluten Freiheit in Hegels Phänomenologie des Geistes«. Forschungschwerpunkte: Französische Aufklärung, Jakobinismus, Französische Revolution, die politische Philosophie Kants und Hegels, Befreiungskriege gegen Napoleon, Marxismus-Leninismus, Oktoberrevolution, die Kontroverse Stalin – Trotzki über den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, die Epoche Stalins, insbesondere Stachanowbewegung und Moskauer Prozesse. Ahlreip arbeitete als Lagerarbeiter u. a. bei Continental in Hannover und bis zum Rentenbeginn als Gärtner für Museumsstätten und Friedhöfe.

.

zurück zur Startseite
hier geht es zur Facebook Diskussionsgruppe

Sag uns deine Meinung zum Artikel mit einem Kommentar/Leserbrief

 

Lest die Klassiker und studiert den Marxismus-Leninismus!

bestellen LESEPROBE …. bestellen LESEPROBE

.

Kontakt: Info@RoterMorgen.eu

..

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*