Hartmut Brückner – 21. März 2023
Nachruf zum „Anwalt der kleinen Leute“
Der Rechtsanwalt, der Autor von Kinderbüchern und von Büchern über die politische Justiz in der BRD, der entschiedene Antimilitarist und Antifaschist Heinrich Hannover, starb am Morgen des 14. Januar 2023 im Alter von 97 Jahren zuhause in Worpswede. Wir verabschieden uns traurig.
Heinrich Hannover war für viele von
uns ein Begleiter in den Jahren unserer
Politisierung. Die Bücher über seine Er
fahrungen mit der Gerichtsbarkeit in der
BRD waren prägend. Aber auch das Buch
über die politische Justiz der Weima
rer Republik trug maßgeblich dazu bei,
vielen von uns diese Zeit und die Vorge
schichte des Faschismus begreiflich zu
machen. Die Frage: „Wie konnte es dazu
kommen?“ ließ sich nun ansatzweise be
antworten, zumindest was die Rolle der
Justiz dabei anging. Allein die Geschich
te der Morde an Rosa Luxemburg und
Karl Liebknecht und wie die Mörder von
der Justiz gedeckt wurden, machte das
deutlich genug.
…Mit diesen Büchern, anfangs zum Teil
mit seiner Ehefrau Elisabeth Hannover
Drück gemeinsam geschrieben, hat Hein
rich Hannover zum Entstehen einer neu
en historisch bewussten und kritischen
Generation beigetragen – nicht nur von
Jurist_innen. Heinrich Hannover erarbei
tete sich seine Sicht der Welt von der
Praxis aus.
…Interessant ist insofern auch der Be
ginn seiner beruflichen Tätigkeit: „Als
ich im Oktober 1954 in Bremen als
Rechtsanwalt zugelassen wurde, stellte
ich mir eine Klientel aus der Kaufmann
schaft und gutsituierten bürgerlichen
Kreisen vor, und hatte auch einen guten Anfang in dieser Richtung, indem ich
durch glücklichen Zufall Hausanwalt des
Bremischen Haus und Grundbesitzer
vereins wurde.
Erleben der Klassenjustiz
Aber dann wurde die angebahnte Karri
ere abrupt unterbrochen. Mir wurde ein
Pflichtverteidigermandat zugewiesen, bei
dem ich einen jungen Kommunisten zu
verteidigen hatte, der wegen Widerstands
gegen die Staatsgewalt in Tateinheit mit
versuchter Gefangenenbefreiung ange
klagt war. Er hatte an einer Demonstra
tion von Arbeitslosen teilgenommen, die
von der Polizei mit Schlagstöcken trak
tiert wurden, weil man ihnen unterstellte,
dass sie das Rathaus stürmen wollten. Als
einer der Demonstranten festgenommen
wurde, soll mein Mandant dessen Befrei
ung versucht haben.
…Diese Behauptung der Anklage beruh
te auf den Aussagen von zwei Polizeibe
amten, von denen einer durchaus Anlass
hatte, seinem Schlagstockgebrauch eine
erfundene Rechtfertigung zu verleihen,
weil er meinem Mandanten eine schwe
re Augenverletzung zugefügt hatte. Der
zweite Beamte wiederholte die Darstel
lung seines Kollegen fast wörtlich. Eine
Darstellung, der mehrere von mir als Zeu
gen benannte Demonstrationsteilnehmer
widersprachen. Sie bekundeten, dass der
folgenreiche Schlag des Polizisten erfolgt
war, als mein Mandant ein heruntergefal
lenes Plakat aufgehoben hatte. Aber das
Gericht glaubte nicht den Aussagen der
Demonstranten, sondern denen der bei
den Polizeibeamten. Die von mir als Zeu
gen benannten Demonstranten waren, mit
einer Ausnahme, Kommunisten. Kaum
hatte ich sie als Zeugen benannt, hatte
der Staatsanwalt sie, soweit es sich um
Kommunisten handelte, ebenfalls ange
klagt, und zwar nach einem damals noch
geltenden Paragraphen aus der Kaiser
zeit, der jeden, der sich nach dreimaliger
Aufforderung der Polizei nicht entfernte,
mit Strafe bedrohte. Dadurch hatte der
Staatsanwalt sie als Zeugen ausgeschal
tet. Mein Antrag auf Abtrennung des Ver
fahrens wurde abgelehnt.
Was einem Strafverteidiger zu denken gibt
Am zweiten Verhandlungstag übernahm
ich die Verteidigung auch dieser Demons
tranten als Wahlverteidiger, was damals
noch möglich war, und erreichte ihren
Freispruch, weil nicht zu widerlegen war,
dass sie die dreifache Aufforderung der
Polizei, sich zu entfernen, bei dem herr
schenden Lärm nicht gehört hatten. Aber
ihre Rolle als Angeklagte erleichterte es
dem Gericht, ihre Aussagen zum Ver
halten meines Mandanten zu ignorieren.
Und über die mit ihrer Sachdarstellung
übereinstimmende Aussage des einen
nicht angeklagten Nichtkommunisten
setzte sich das Gericht mit ‚freier Be
weiswürdigung‘ hinweg. Alles in allem
ein Verfahren, das auch einem Anfänger
im Strafverteidigerberuf zu denken geben
musste.
…Dieses Pflichtverteidigermandat gab
meinem ganzen Berufsleben eine politi
sche Richtung, die ich nicht vorausgese
hen hatte.“1
…Diese Geschichte spielte in den 1950er Jahren, aber wir alle kennen sie
aus eigener Anschauung: Sie wird auch
heute noch genauso oder mit nur leichten
Abweichungen vor den bundesdeutschen
Gerichten gegeben.
Anwaltschaft in Zeiten des Antikommunismus
Dass Auftraggeber ausbleiben, wenn ein
Anwalt sich der Sache von Minderheiten
annimmt und dieses auch noch ent
schieden und mit allen Mitteln des gut
erlernten Handwerks tut, wussten alle
von Heinrich Hannovers Berufskollegen.
Daher fand sich in der gesamten BRD auch nur eine kleine Zahl von Anwälten,
die bereit waren, vor Gericht gegen die
Sonderbehandlung von Kommunist_in
anzunen einzutreten. Gegen welchen Zeit
geist in der frühen BRD diese Anwälte
antreten mussten, zeigt das folgende
Zitat der niedersächsischen Landtagsab
geordneten Maria Meyer Sevenich: „Ent
nazifizierung ist nichts anderes als die
Bolschewisierung des westdeutschen
Raumes.“2
…In vielerlei Texten und Büchern be
schrieb Heinrich Hannover diese Zeit und
sparte nicht mit Kritik am bundesdeut
schen Justizsystem. Widerstandskämp
fer_innen gegen den Faschismus wurden
vor bundesdeutschen Gerichten erneut
gedemütigt und verhöhnt, manchmal
von denselben Richtern, die sie schon
im Faschismus verurteilt hatten. Fa
schistischen Verbrechern wurden Wege
aufgezeigt, ihrer Strafe zu entkommen,
wenn sie denn überhaupt vor Gericht
erscheinen mussten und ihr Verfahren
nicht verschleppt oder eingestellt wurde.
Exemplarisch sei hier nur eines näher
betrachtet: Der Prozess um den Mord an
Ernst Thälmann.
Im Februar 1982 nahm Heinrich Hannover den Auftrag an, für die Tochter 1 Verhinderte historische Alternativen. Das KPD Ver bot von 1956 und die Folgen für die bundesrepub likanische Justiz 2 Sitzung des niedersächsischen Landtages v. 11. Juli 1951, Stenogr. Prot., 2. Wahlperiode, Sp. 138. des ermordeten KPD Vorsitzenden Ernst Thälmann als Nebenklägerin ein Klageer zwingungsverfahren gegen den ehemali gen SS Funktionär Wolfgang Otto wegen Beihilfe zu der Ermordung Thälmanns durchzuführen. Im April 1962 hatte der Kollege Kaul im Auftrage der Witwe Thälmanns Straf anzeige gegen Otto und einen weiteren damals noch lebenden Mittäter erstat tet. In den folgenden Jahren wurde das Ermittlungsverfahren, das von Kaul mit Beschwerden und Anträgen immer weiter getrieben wurde, wiederholt eingestellt. Mit der Klageerzwingung hatte Hein rich Hannover „in dieser verschleppten und von Justizversäumnissen wimmeln den Sache“3 Erfolg, die Staatsanwalt schaft musste Anklage erheben. Am 15. Mai 1986 wurde Otto vom Landgericht Krefeld für schuldig befunden und zu vier Jahren verurteilt. Der Bundesgerichtshof revidierte 1987 das Urteil – sozusagen um der natürlichen Ordnung der BRD zu folgen. Die erneute Verhandlung 1988 vor dem Landgericht Düsseldorf führte letztlich zum Freispruch.
„Entgegen der einfachsten Regeln der Logik“
In seinem Schlussvortrag hatte Heinrich
Hannover darauf hingewiesen, dass bei
faschistischen Verbrechen in Deutsch
land „entgegen den einfachsten Regeln
der Logik“ zwischen der höchsten Spitze
der Befehls Pyramide sowie den Henkern
an der Basis „ein strafrechtliches Loch
gähnt, in dem es keine Kausalität und
keine Schuld gibt“. Er bezeichnete das
Verfahren am Tag der Urteilsverkündung
1988 als „Terroristenprozess besonderer
Art, bei dem der Angeklagte weder Fes
seln noch spürbare Gewissenslasten mit
sich herumtrug, das Gericht ein Höchst
maß an Rücksichtnahme und Gründlich
keit zeigte und die Staatsanwaltschaft
sich frei von jedem Verfolgungseifer prä
sentierte.“
…Doch auch wenn dieses Verfahren ver
lorenging: Allein, dass es stattfand und
der bundesdeutschen Justiz geradezu ab
gerungen werden musste, hatte – nach
Fritz Bauer – eine aufklärende Bedeu
tung.
3 Heinrich Hannover 1988 im Revisionsverfahren
vorm Landgericht Düsseldorf
.
…Nun verabschieden wir uns von die
sem freundlichen, in der Diskussion so
aufmerksamen wie aber auch über die
Zustände in der Republik so zornigen
Mann, der in seinem Buch „Die Repu
blik vor Gericht 1954–1995“ über sich
selbst schrieb: „So bin ich der Anwalt der
kleinen Leute, der politisch oder religiös
verfemten Minderheiten, der gegen das
kapitalistische System und neue Einmi
schung in Krieg und Völkermord aufbe
gehrenden Generation geworden.“ Das
ist eine Haltung, die nach wie vor in der
Juristerei selten ist. Er fehlt uns.
Es ist leider schon eine Weile her, dass wir Heinrich Hannover zu einer Le
sung aus seinen Büchern zu uns nach
Hannover eingeladen hatten. Er las da
mals aus seinen beiden Büchern „Die Re
publik vor Gericht“ einige eindrucksvolle
Passagen. Er erzählte uns, vor allem die
ehemaligen Widerstandskämpfer habe er
mit tiefer Hingabe und Leidenschaft und
aus Hochachtung vor ihren Leistungen
verteidigt.
…Wir sprachen damals auch über seine
vielen Niederlagen und wie er damit zu
rechtkomme. Es gelte eben einfach und
vor allem, vor sich selbst bestehen zu
können – das habe zur Folge, dass man
gelassener mit der Geschichte zurande
kommen könne. Er hätte ja auch erst ler
nen müssen, dass es bei der Justiz nicht
um Gerechtigkeit ginge, sondern nur um
Recht, was nichts miteinander zu tun
habe, beziehungsweise nur im Glücksfall. Zum Beispiel gegen gewalttätige Poli
zei Anzeige zu erstatten, davon rate er
dringend ab: Beamten würde vor den Ge
richten immer geglaubt, die Justiz wäre
parteiisch, antikommunistisch und gegen
Arme – aus Tradition.
…Um aber an alldem nicht zu verzwei
feln, brauche man einen Ausgleich, er
habe ihn in seiner Familie – seiner Frau
Elisabeth Hannover Drück und den Kin
dern – der Musik und nicht zuletzt beim
Schreiben von Geschichten für Kinder ge
funden. Daraufhin las er noch eine kleine
Geschichte aus einem seiner Kinderbü
cher vor, auf Plattdeutsch, aus dem Buch
„ As de Clown de Gripp har“. Es machte
ihm sichtlich ganz besonderen Spaß.
…Wir vermissen ihn, sein Engagement,
seine Freundlichkeit. Schade, dass es
keine neuen Artikel, keine Kinderbücher
mehr von ihm geben wird.
- Verhinderte historische Alternativen. Das KPDVerbot von 1956 und die Folgen für die bundesrepublikanische Justiz
- Sitzung des niedersächsischen Landtages v. 11. Juli 1951, Stenogr. Prot., 2. Wahlperiode, Sp. 138.
- Heinrich Hannover 1988 im Revisionsverfahren vorm Landgericht Düsseldorf
.
Erstveröffentlichung in Rote Hilfe 1/2023 . Bilder und Bilduntertexte wurden von der Redaktion Roter Morgen hinzugefügt.
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