Die Welt in Flammen – Migration und Klasse

Bild von Thomas Meier auf Pixabay

Ulrike Eifler – 8. Januar 2021

272 Millionen Menschen waren 2019 weltweit auf der Flucht, mehr als je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Sie flohen vor Krieg, Menschenrechtsverletzungen, Natur- und Klimakatastrophen, Armut, Gewalt oder Umweltverschmutzungen. Nach vorläufigen Schätzungen der OECD hat sich diese Zahl in den ersten sechs Monaten 2020 aufgrund von coronabedingten Grenzschließungen, Reisebeschränkungen und ausgesetzten Flugverbindungen halbiert.

Doch die Fluchtursachen sind damit nicht verschwunden. Im Gegenteil: Die soziale Ungleichheit hat sich mit der Pandemie weltweit verschärft. Wir müssen diese riesigen und verzweifelten Migrationsbewegungen als Ausdruck einer multidimensionalen Krise des Kapitalismus betrachten, die auf der Ebene wachsender sozialer Ungleichheit, autoritärer Politik und des drohenden Klimakollaps stattfindet. Ihre Ursachen und Folgen müssen in den Kontext kapitalistischer Klassenbeziehungen gestellt werden.

Flüchtlingscamp in Moria: Kälte, Nässe und untragbare hygienische Zustände. Bild: YouTube

Migration und Flucht

Migration und Flucht sind nicht dasselbe. Vielmehr ist Migration ein Oberbegriff, den man entlang verschiedener Aspekte differenzieren kann. Wenn Menschen ihren Lebensmittelpunkt innerhalb eines Landes wechseln, spricht man von Binnenmigration. Tun sie dies über Staatsgrenzen hinweg, ist das internationale oder grenzüberschreitende Migration. Es gibt zeitlich begrenzte und es gibt dauerhafte Migration. Außerdem unterscheidet man zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Migration. Die Grenzen dazwischen sind nicht immer trennscharf: Doch Arbeitsmigration, Binnenmigration oder familiär bedingte Migration sind in der Regel freiwillig. Unfreiwillig dagegen wird sie aufgrund von Flucht und Vertreibung. Jeder Geflüchtete ist also ein Migrant, aber nicht jeder Migrant ein Geflüchteter.

Die exorbitante Zahl Geflüchteter dokumentiert, wie sehr sich die Lebensbedingungen einer Vielzahl von Menschen verändert haben. Die konservative Neue Zürcher Zeitung veröffentlichte zu Beginn des Jahres 2020 einen Artikel mit dem Titel Warum die Welt 2019 in Flammen stand!“ und identifizierte darin eine weltweite Ungleichverteilung und einen Vertrauensverlust in die politischen Eliten: „Eine Wohlstandsverteilung, die viele als ungerecht empfinden. Die Perspektivlosigkeit vieler junger Leute, deren Bildungsabschlüsse sich nicht in Wohlstand und Prestige umsetzen lassen. Oder aber die Angst vor dem sozialen Abstieg… Die Frustration unterspült die Fundamente der politischen Systeme. Die Legitimität der Herrschenden bröckelt, in Demokratien wie in Diktaturen.“

Die NZZ beschreibt damit die politischen und sozioökonomischen Auswirkungen einer globalisierten Welt, in der sich international agierende Unternehmen Zugang zu Ressourcen und Standortbedingungen verschaffen und dafür die Verfestigung undemokratischer, korrupter Strukturen bis hin zu autoritärer Politik, aber auch wachsende soziale Ungleichheit, Kriege und den Klimakollaps in Kauf nehmen. Der Schlüssel zum Verständnis dieser Entwicklungen liegt in ihrer klassenpolitischen Einordnung. Während die Globalisierung für die Unternehmen Freiheit im Warenverkehr und ungehinderten Zugang zu Märkten bedeutet, schaffte sie für einen großen Teil der arbeitenden Bevölkerung – insbesondere in den Ländern des Globalen Südens – Arbeits- und Lebensbedingungen, die diese zu Migration zwingen..
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Globalisierung von oben: Freiheit für Unternehmer

Im Kapitalismus sind nicht nur Menschen, sondern auch Waren, Kapital und Arbeitskräfte in Bewegung. Bereits Marx und Engels schrieben im Kommunistischen Manifest: „Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarktes die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen“. (Karl Marx/Friedrich Engels: Das Kommunistische Manifest, )

Heute drückt sich diese Tendenz in weltumspannenden Kapital- und Wirtschaftsströmen, im Agieren transnationaler Konzerne, in globalen Lieferketten und in einem kontinuierlich wachsenden Handelsvolumen aus. 2018 wurden weltweit Güter im Wert von rund 19,5 Billionen US-Dollar exportiert. Der internationale Kapitalverkehr expandiert seit Mitte der 1980er Jahre doppelt so schnell wie der Warenhandel und fast viermal stärker als die Weltproduktion. Offene Grenzen spielen eine zentrale Rolle bei der Suche nach neuen Anlage-, Produktions- und Absatzmöglichkeiten. Im Zentrum stehen die Freiheit für Investitionen, Handel und Kapitalflüsse und die freie Entscheidung, Produktion und Kapital in andere Länder zu bewegen. Oder wie der schwedische Manager Percy Barnevik es formulierte: „Globalisierung (…) ist die Freiheit für meine Gruppe von Unternehmen zu investieren, wann sie wollen, was sie wollen; und zu produzieren, wann und wo sie wollen; und zu kaufen, wann und wo sie wollen, mit dem wenigsten Druck von Arbeitnehmerseite“. (Globalisierung oder Gerechtigkeit. Politische Gestaltung und soziale Grundwerte, VSA, S.48)

Dies ist der erste von drei Teilen zu Thema Migration von Ulrike Eifler, der nächste beschäftigt sich mit Globalisierung von unten.

Erstveröffentlichung am 7. Januar 2021 auf »Die Freiheitsliebe«. Veröffentlichung mit freundlicher genehmigung des Herausgebers. Bilder und Bilduntertexte wurden ollständig oder zum Teil von der Redaktion Roter Morgen hinzugefügt.
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Lest dazu auch:

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3 Kommentare

  1. Coronavirus unter Migranten – Rassismus?

    Oder: Müssen Migranten auch in Deutschland früher sterben?

    Corona-Fallzahlen unter Migranten: „Es gibt kein Tabu“

    Medienberichten zufolge beklagt RKI-Chef Lothar Wieler, dass hohe Corona-Fallzahlen unter Menschen mit Migrationshintergrund tabuisiert werden.

    Vgl. Corona-Zahlen unter Migranten: Aussage von RKI-Chef Wieler relativiert (rnd.de)
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    Relevante Migrationsdaten für die COVID-19-Pandemie

    Migrantinnen und Migranten – insbesondere in schlechter bezahlten Beschäftigungsverhältnissen – sind einerseits möglicherweise von der Ausbreitung von COVID-19 in den Ländern, in denen die Pandemie bereits herrscht, stärker betroffen und in den Ländern, in denen sie sich gerade ausbreitet, stärker gefährdet.

    Vgl. Relevante Migrationsdaten für die COVID-19-Pandemie (migrationdataportal.org) *

    Infektionsgeschehen und Sterberate unter Migrantinnen und Migranten

    »Geringqualifizierte Wanderarbeiterinnen und -arbeiter in überfüllten Wohnheimen sind unverhältnismäßig stark von der Pandemie betroffen. Beispiele aus Saudi-Arabien und Singapur, wo die Gesundheitsministerien offizielle Daten über den Migrationsstatus von Personen, die positiv getestet wurden, zur Verfügung gestellt haben, zeigen, dass Migrantinnen und Migranten dem Virus in unterschiedlichem Maß ausgesetzt sind. –

    Nach Angaben des saudischen Gesundheitsministeriums betrafen 75 Prozent aller neu bestätigten Fälle zum 7. Mai 2020 Migrantinnen und Migranten. Bis zum 19. Juni 2020 betrafen über 95 Prozent der bestätigten Fälle in Singapur Migrantinnen und Migranten, wobei mehr als 93 Prozent aller Fälle mit den Wohnheimen von Migrantinnen und Migranten in Verbindung standen (Gesundheitsministerium von Singapur, 2021).« Vgl.*
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    Ansteckungsgefahr in Flüchtlingsunterkünften

    »Gemeinschaftsunterkünfte für Geflüchtete gelten als besonders gefährliche Infektionsherde. Eine Untersuchung der Universität Bielefeld unter knapp 10.000 Geflüchteten von 42 Gemeinschaftsunterkünften konnte zum Stichtag 22. Mai 2020 rund 1.800 bestätigten Infektionsfälle feststellen.

    In Sammelunterbringungen für Geflüchtete sind Abstand-Maßnahmen zumeist nicht oder nur bedingt umsetzbar: Mehrbettzimmer und gemeinschaftliche Nutzung von Küchen und Sanitäranlagen können die Verbreitung des Virus begünstigen.

    Allein in den Erstaufnahmeeinrichtungen der Bundesländer leben mehr als 40.000 Menschen (Stand Ende März). Hinzu kommt eine noch größere Zahl von Geflüchteten, die in Gemeinschaftsunterkünften leben.

    Vgl. Corona-Pandemie | Migration | Zahlen und Fakten | MEDIENDIENST INTEGRATION (mediendienst-integration.de)
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    26.03.2021, Reinhold Schramm (Zusammenfassung)

  2. Die Flucht ins westlich-imperialistische Konsumparadies löst kein soziales Problem der Jugend.

    »Gerichtsurteil. Deutschland darf Geflüchtete nicht nach Italien zurückschicken.
    Deutsche Behörden können Geflüchtete nicht ohne Weiteres nach Italien überstellen, entschied ein Gericht in Münster: Den Klägern, die über das Mittelmeerland eingereist waren, drohe dort existenzielle Not.«

    Vgl. SPON *

    Kommentar
    [unter Zensur]

    Davonlaufen ist keine Lösung für wirtschaftliche und soziale Probleme!

    Auch die afrikanische Jugend muss ihren Befreiungskampf selbst führen!

    Davonlaufen und Migration gefährdet den Jugendwiderstand in den Krisenländern und dient nur den dortigen Oligarchen und internationalen Konzernen bei der Plünderung von heimischen Rohstoffen und Bodenschätzen.

    Die wirtschaftliche und soziale Lösung für (vorwiegend) junge männliche Flüchtlinge und Asylanten besteht nicht in ihrer Aufnahme im bundesdeutschen und westeuropäischen Wirtschafts- und Konsumparadies. Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme müssen auch von jungen Männern in ihren Heimatländern gesellschaftspolitisch gelöst werden. Deshalb müssen sich auch die in Deutschland und Europa aufgenommenen Flüchtlinge und Asylanten daran beteiligen.

    Spätestens mit dem daran selbst engagierten Erwerb einer beruflichen Bildung im westeuropäischen Wohlstandparadies müssen sich auch junge Migranten auf den Weg zurück in ihre wirtschaftlichen und sozialen Krisenregionen machen, um ihre Länder aus der Armut zu befreien.

    Dazu gehört auch die persönliche gesellschaftspolitische Beteiligung am Kampf gegen die heimischen Oligarchien und korrupten Eliten. //

    ●, dieser Kampf kann nicht von der Bundeswehr und auch nicht von der NATO für sie geführt werden. Sie sind selbst Teil des Problems.

    * Vgl. Deutschland darf Geflüchtete nicht nach Italien zurückschicken – DER SPIEGEL

    30.07.2021, R.S.

  3. vs. bürgerliche Migrationspolitik

    Mehr Jugendwiderstand und Klassenkampf wagen?

    »Mehr Migrationspolitik wagen. Bundestagswahl. Zuwanderung und Integration sind für viele in Deutschland die wichtigsten politischen Themen – die Parteien ignorieren das.«

    Siehe: Die Wochenzeitung, der Freitag *

    Leserbrief

    Bezug: Mehr Migrationspolitik wagen. Von Ferda Ataman l Ausgabe 35/2021

    Da ich keine Zugänge mehr zum Meinungsmedium, der Freitag, erhalte, meinen Kommentar auf diesem Weg an die Redaktion:

    Kommentar von Reinhold Schramm

    Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Mehrheit der Menschheit können nicht durch Flucht und Migration in das westliche und westeuropäische Konsumparadies gelöst werden.

    Die Migranten und Flüchtlinge müssen ihre sozialen und wirtschaftlichen Probleme vor allem zu Hause in ihren Ländern und Regionen lösen. Dafür muss man schon die bestehenden Klassengesellschaften überwinden und an diesem (sozialrevolutionären) Kampf für die Umgestaltung der Gesellschaft vor Ort teilnehmen.

    Zugleich bleibt es auch die wesentliche Aufgabe der Mehrheit der Bevölkerungen in den westlichen Wirtschaftsmetropolen hierfür Voraussetzungen zu schaffen, die auch darin bestehen, für die sozioökonomische Gleichheit zu kämpfen und die eigene Klassengesellschaft zu überwinden.

    ►In diesem sozial- und gesellschaftspolitischen Prozess der Überwindung und Aufhebung der (westlichen) Klassengesellschaften, werden auch die Voraussetzungen für gleichwertige Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit den noch heutigen sogenannten Schwellen- und Entwicklungsländern geschaffen.

    ●, das wäre eine wesentliche Voraussetzung für deren eigenständige sozioökonomische und ökologische Entwicklung und für einen Verbleib in ihren Ländern und Regionen.

    PS: Davonlaufen, Flucht und Migration in das (irrational) erhoffte Konsumparadies ist keine Lösung. Flüchtlinge und Migranten aus den sozialen Armutsregionen müssen sich am sozialrevolutionären Jugendwiderstand schon selbst beteiligen. – Beispielhaft hierfür wären auch für die heutigen Flüchtlinge und Asylanten in Deutschland, deren Patriarchen wie Wirtschafts- und Sozial-Migranten, die kämpfenden kurdischen Frauen.

    * Siehe: Bundestagswahl ǀ Mehr Migrationspolitik wagen — der Freitag
    https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-freitag/mehr-migrationspolitik-wagen

    08.09.2021, R.S.

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