Heinz Ahlreip – 16. Februar 2022
In Claude-Adrien Helvétius begegnet uns ein radikaler Aufklärer, der der wichtigste, am weitesten fortgeschrittene Gesellschaftstheoretiker des französischen Materialismus im 18. Jahrhundert war, ohne aber die idealistische Geschichtsauffassung überwinden zu können. Feuerbach fand Substantielles in seinen Schriften für seinen Kampf gegen Hegels Idealismus, ohne dass auch er die idealistische Geschichtsauffassung überwinden konnte. Wandte Helvétius quasi als Vorgriff den Sensualismus in materialistischer Manier auf die Gesellschaft seiner Zeit an, so wird Marx später seinen dialektischen und historischen Materialismus auf die Geschichte und die Gesellschaft im weltverändernden Sinne anwenden.
Dieser französische Materialist und Atheist, den Voltaire vergeblich auf artige Positionen zu zügeln versuchte, rief so sehr den Hass der sich in Fäulnis befindlichen feudalen und klerikalen Reaktion, der Jesuiten und der Jansenisten, die sich ansonsten spinnefeind waren, hervor, dass Helvétius gegen Ende seines Lebens wegen Verfolgungen in tiefe Depressionen fiel. Nach Voltaires Exil in England von 1726 bis 1728, aus dem 1733 die im katholischen Frankreich recht einflussreichen, im Zeichen der Aufklärung geschriebenen ‘Briefe über die Engländer‘ resultierten, bereiste auch Helvétius 1764 England und nahm auch wie Voltaire fortschrittliche Ideen, insbesondere den Sensualismus Lockes, in sich auf. Der Verkauf seines auf materialistisch-sensualistischen Grundlagen entwickelten, nicht ganz passend, eher irreführend betitelten Hauptwerkes ‘Vom Geist‘ wurde 1758 sofort als skandalös, lasterhaft und gefährlich verboten. Das war nicht ungefährlich, stand doch auf jegliche öffentliche Kritik an der Religion und der Staatsordnung die Todesstrafe. Helvétius war generell gefährdet, denn er ging auf zwei heilige Kühe zugleich los, auf die Religion, die er als destruktiv für das Menschengeschlecht einschätzte, und auf das Privateigentum. Er hatte das Spiel der Pfaffen durchschaut, durch die Religion den Reichtum des Königs und die Privilegien des Adels für unantastbar zu umkreisen wie ein Schäferhund die Schafherde. Der Klerus war der Dritte im Bunde der Blutsauger, denn er konnte die Höhe, der von ihm jährlich zu entrichtenden Steuer selbst bestimmen. Schon Bayle hatte 1697 in seinem ‘Historisch-Kritischen Wörterbuch‘ vertreten, dass eine aus Atheisten bestehende Gesellschaft durchaus sozial ausgeglichen und friedlich miteinander auskommen könne.
So sah der Philosoph Helvétius auch keine überirdischen Mächte als treibende Urkräfte der Geschichte am Werk, sondern nahm als Dreh- und Angelpunkt der Fortbildung der Gattung die menschlichen Leidenschaften an, die er aber rein individuell, nicht klassenmäßig ausdeutete. Der Materialist und Atheist vertrat, dass mit der Aufteilung des ursprünglichen Gemeineigentums blutige Kriege und erbärmlichste soziale Nöte unter die Menschen einkehrten. Sie fingen an, Eignes und Fremdes zu unterscheiden. Nachdrücklich verkündet er, dass es kein Eigentum gibt, das nicht Resultat blutiger Gewalt ist. Der aus dem Privateigentum entsprungene Krieg bedrohe alle und jeden mit der Vernichtung. Der Staat sei ursprünglich entstanden, die Schwachen zu schützen, pervertiert aber im Absolutismus zur deren Zuchtrute. Die Liebe zur Menschheit gilt jetzt als Verbrechen, Gewalt und Betrug regieren die Welt. Trotz dieser bösen Hagelschläge strebte dieser radikale bürgerliche Aufklärer zur Sonne der Vernunft, zu einer Wissenschaft von der Gesellschaft, der die Präzision der Newtonschen Physik eignet. Für Helvétius stand fest, dass es eine Gesetzmäßigkeit in der Geschichte gibt, die unserem Geist nicht versschlossen bleiben kann. Im sich immer mehr vertiefenden Wissen, zu dem die Leidenschaften Balance halten müssen, liege das Glück der Menschen.
Befangen bleibt er im Kontext der bürgerlichen Aufklärung insofern, als er sich eine fortschrittliche Entwicklung der Gesellschaft durch das Medium der Erziehung primär der gebildeten und wohlhabende Kreise vorstellt. So versprachen sich die französischen Aufklärer, die noch nicht über die Waffe des historischen Materialismus verfügten, viel von dem auch von Lockes Sensualismus ausgehenden Aufklärer Condillac, der für neun Jahre in Parma die Erziehung des Kronprinzen Ferdinand übernahm. Diese Position war idealtypisch für die bürgerliche Aufklärung, die die Bedeutung der Pädagogik überspitzte und dieser Disziplin die Hauptlast bei der Korrektur feudalistisch geprägten Fehlverhaltens aufbürdete, eine handfeste Erziehung durch revolutionäre Volksmassen war nicht im Prospekt des 18. Jahrhunderts.
Von Depressionen gezeichnet starb Helvétius am 26. Dezember 1771, wie Voltaire suchte er auch in seiner Todesstunde weder die Nähe noch den Trost und auch nicht den Segen der Pfaffen. Marx sah in der 1844 von ihm und Engels geschriebenen ‘Heiligen Familie‘ im Materialismus von Helvétius eine in dieser Weltanschauung liegende Tendenz zum Sozialismus und Humanismus. Lenin drängte nach der Oktoberrevolution, etwa in seiner Schrift über die Bedeutung des streitbaren Materialismus (12.3.1922 / siehe LW 33,213ff.), auf die Übersetzung und Publikation der Texte der französischen Aufklärer, die noch gegen den Strom schwimmen mussten, zu einer Zeit, wo das Gedankengut der Aufklärung noch nicht die Modephilosophie der französischen Mittelklasse war.
Es darf nicht nur rein geisteswissenschaftlich vorgegangen werden, man muss fragen: Welche Kreise konnten damals schreiben und lesen? An wen konnten sich die bürgerlichen Aufklärer nur wenden? Das war ein sehr enger Kreis, eine Minderheit, die wirklich Angst vor dem ungebildeten und in ihren Augen rohen Pöbel hatte. Folglich war ein Abstumpfen der Klassengegensätze ein Hauptanliegen der bürgerlichen Aufklärer, die sich in einer Zwickmühle befanden. Um den Absolutismus zu stürzen, mussten sie vorsichtig an die absolute Mehrheit der Massen appellieren, was ihre dialektischen Ansätze nicht zum Austragen kommen, sondern rasch verkümmern ließ. Die radikalste bürgerliche Aufklärung in Europa, die immer noch elitär bleibende französische, untersagte sich selbst, der materialistischen Dialektik zum Durchbruch zu verhelfen. Kein bürgerlicher Aufklärer konnte ausrufen: ‘Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!‘
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Über den Autor:
Heinz Ahlreip, geb. am 28.2.1952 in Hildesheim. Studium in den Fächern Philosophie und Politik an der Leibniz Universität Hannover von 1975 bis 1983, Magisterabschluß mit der Arbeit „Die Dialektik der absoluten Freiheit in Hegels Phänomenologie des Geistes“. Schwerpunkte der Forschung: Französische Aufklärung, Jakobinismus, französische Revolution, Politische Philosophie Kants und Hegels, Befreiungskriege gegen Napoleon, Marxismus Leninismus, Oktoberrevolution, die Kontroverse Stalin – Trotzki über den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, die Epoche Stalins, insbesondere Stachanowbewegung und Moskauer Prozesse.
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