Zum Völkermord in Gaza

BIP-Aktuell #285a – 16. Dezember 2023

Wann ist die Schwelle überschritten
und ein Massaker wird zum Völkermord?
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Das Verbrechen des Völkermords ist in der UN-Konvention zur Verhinderung von Völkermord klar definiert. Eine juristische Analyse ergibt, dass Israel sich des Verbrechens des Völkermords im Gazastreifen schuldig gemacht hat. Für Nicht-Juristen ist es wichtig, die drei Elemente zu verstehen, die erforderlich sind, um die Schuld im Fall von Völkermord nachzuweisen: die absichtliche Entmenschlichung, die systematische Schädigung von Zivilisten und der Nachweis, dass die Zivilisten bewusst ins Visier genommen werden. Diese drei Faktoren werden im Folgenden dargestellt.
 
Explizit als Völkermord definiert werden in Artikel 2 der 1951 in Kraft getretenen UNO- ”Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes” Handlungen, „die in der Absicht begangen“ werden, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Zu solchen Handlungen zählen nicht nur die gezielte „Tötung von Mitgliedern der Gruppe“ sondern auch „die Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischem Schaden“ und die „vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung“ herbeizuführen. Auch die „Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe“ oder die „gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“ fallen unter die Definition von Völkermord. Die Konvention wurde von Deutschland, Israel und Palästina unterzeichnet, die zu den 153 Staaten gehören, die ihr bereits beigetreten sind und sie ratifiziert haben.

Ein Screenshot aus dem Telegram-Kanal „72 Jungfrauen – unzensiert“ (siehe unten). Der Text auf Hebräisch lautet: „Sehr gut Gershon!!! Überfahre ihn, überfahre ihn!!! Wir ficken diese Hurensöhne! Wir überfahren sie“ und „ein einzigartiges Video für eine gute Nacht, nicht vergessen zu teilen und weiterzuleiten“. BIP hat sich entschieden, dieses Bild zu teilen, weil die anderen Bilder grausame, explizite Bilder von Leichen zeigen. Quelle: Telegram.

Die Frage, ob es sich bei dem israelischen Angriff auf den Gazastreifen seit dem 7. Oktober um einen Völkermord handelt, ist vor allem in Deutschland höchst umstritten. Die taz unterstellt sogar denjenigen, die behaupten, Israel begehe Völkermord, Hamas-Anhänger zu sein. Deutsche Politiker, für die die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson ist, sind mit einem Dilemma konfrontiert: Sie kommen zu dem Schluss, dass sie aufgrund des Holocaust, des Völkermordes an Juden und anderen Minderheiten, den Staat Israel unterstützen müssen, den sie fälschlicherweise als Vertreter aller Juden wahrnehmen. Gleichzeitig lehrt sie die deutsche Erinnerungskultur, bereits Anzeichen eines Völkermordes zu erkennen, wie sie in der obigen Definition beschrieben wurden. Weniger juristisch ausgedrückt, bedeutet Völkermord die Entmenschlichung einer Gruppe von Menschen und einen systematischen Angriff auf diese Gruppe. Diese Voraussetzungen zur Definition von Völkermord sind  im Gazastreifen  erfüllt.
 
Der jüdisch-israelische  Holocaust- und Völkermordforscher Prof. Dr. Raz Segal schrieb bereits am 13. Oktober einen Artikel, in dem er den israelischen Angriff auf Gaza, der durch rassistische Äußerungen der israelischen Regierung angeheizt wurde, als „Lehrbuchfall von Völkermord“ bezeichnete. Sein Artikel wurde weit verbreitet und fand große Resonanz. Segal ist allerdings Historiker, kein Jurist. In ihrem Brief gehen 800 Rechtswissenschaftler nicht ganz so weit, sind aber sehr deutlich in ihrer Aussage: ”Israels derzeitiger Angriff auf den Gazastreifen ( …) ist in Umfang und Schwere beispiellos.” Auch BIP-Gründungsmitglied Prof. Dr. Norman Paech bestätigte in einem Artikel, dass die Definition von Völkermord das vom Staat Israel gegen die Zivilbevölkerung in Gaza begangene Verbrechen genau beschreibt.
 
Um diese Argumentation zu erläutern, ist es wichtig, drei Elemente des Angriffs zu analysieren: Erstens muss die Absicht der israelischen Behörden, der Regierung und des Militärs nachgewiesen werden, die Palästinenser zu entmenschlichen und die Zivilbevölkerung als legitimes Ziel für militärische Angriffe zu behandeln. Zweitens muss der systematische und brutale Charakter des Angriffs nachgewiesen werden, der die Zivilbevölkerung gefährdet und keinen humanitären Schutz für die Zivilbevölkerung bietet. Drittens muss der Nachweis erbracht werden, dass die Tötung von Zivilisten nicht als Nebeneffekt oder als „Kollateralschaden“ bei Angriffen auf militärische Ziele erfolgt, sondern dass die Zivilisten selbst das Ziel sind.
 
Der erste Teil der drei Stufen ist am einfachsten zu beweisen. BIP hat Aussagen von israelischen Beamten, Politikern, Militärs und Prominenten gesammelt, die zur Ausrottung der Palästinenser aufrufen (siehe BIP-Aktuell #277). Seit der Veröffentlichung des BIP-Berichts hat sich der Rassismus und die Hetze gegen Palästinenser weiter verschärft. Der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich sagte, dass auch die palästinensische Bevölkerung im Westjordanland kollektiv schuldig sei, da es im Westjordanland „zwei Millionen Nazis“ gebe, was als grünes Licht für die Ausrottung der gesamten Bevölkerung gelten kann. Israels Kommunikationsminister Shlomo Karhi rief dazu auf, die Vorhäute von Hamas-Kämpfern in einer biblisch inspirierten Gräueltat einzusammeln – ein klarer Aufruf zu einem Vernichtungskrieg im biblischen Sinne (Quelle auf Hebräisch). Die Zeitung Haaretz deckte auf, dass das israelische Militär einen Telegram-Kanal betreibt, in dem Soldaten Bilder aus dem Gazastreifen mit toten Palästinensern hochladen, die von Witzen begleitet werden. Der Telegram-Kanal heißt „72 Jungfrauen – unzensiert“ und ist auf Hebräisch. Er dient der Entmenschlichung der Palästinenser, um das massenhafte Töten von Zivilisten zu legitimieren und zu erleichtern. Obwohl das israelische Militär bestreitet, den Kanal zu betreiben, bestätigte ein hochrangiger Offizier, dass eine Militäreinheit für das Sammeln der Bilder und das Einstellen in den Kanal verantwortlich ist (Quelle auf Hebräisch).
 
Der zweite Teil der Definition ist ebenfalls leicht nachzuweisen. Nach der Erklärung des israelischen Verteidigungsministers Gallant, dass es in Gaza kein Wasser, keine Nahrungsmittel und keinen Treibstoff geben wird und nachdem Israel Krankenhäuser angegriffen hat (siehe BIP-Aktuell #281), den letzten verbliebenen Ort, an dem Zivilisten versuchten, Schutz zu finden, gibt es keinen Zweifel daran, dass ein systematisches Töten, Verletzen und sogar Aushungern von Zivilisten stattfindet. Israel behauptete, der Angriff auf das Al-Shifa-Krankenhaus sei notwendig gewesen, um Hamas-Kämpfer aufzuspüren, aber als sie das Hamas-Hauptquartier, das sich angeblich im Krankenhaus befand, nicht finden konnten, vertrieben sie die Patienten und das Personal und ließen das Krankenhaus mit 39 Frühgeborenen und ohne Versorgung zurück. Die Weltgesundheitsorganisation startete eine Rettungsaktion, konnte aber nur 31 der Babys retten, bevor sie starben. Das Aussetzen von Babys zum Sterben ist ein Akt des Völkermords.
 
Israel hat auch erklärt, dass es die Angriffe fortsetzen will, um der Bevölkerung in Gaza weiteren Schaden zuzufügen und bereit ist, so weit zu gehen, dass es die Hamas von einer Kapitulation abhält. Obwohl Netanjahu die Hamas offiziell zur Kapitulation aufgefordert hat, erniedrigen die israelischen Streitkräfte gefangene Palästinenser durch eine inhumane Behandlung. Sechs palästinensische Gefangene sind dadurch in letzter Zeit in israelischen Gefängnissen und möglicherweise auch durch Folter gestorben, als sie nach Informationen befragt wurden (Quelle auf Hebräisch). Ein Foto von nackten Hamas-Kämpfern, die sich Israel angeblich ergeben, wurde vom israelischen Militär gefälscht, wie der anonyme Blogger Ishton bewiesen hat (Quelle auf Hebräisch). Zivilisten, die von den Soldaten gefangen genommen wurden, wurden nackt ausgezogen, um sie zu demütigen. Der Intercept-Journalist Jeremy Scahill argumentierte daraufhin, dass es sich nicht um einen Krieg gegen die Hamas, sondern um einen Krieg gegen die palästinensische Zivilbevölkerung handelt.
 
Das dritte Element des Verbrechens des Völkermords ist am schwierigsten zu beweisen, nämlich dass das israelische Militär absichtlich Zivilisten ins Visier nimmt und sie nicht nur aus Nachlässigkeit als „Kollateralschaden“ tötet, während es versucht, Kämpfer zu treffen. Dies scheint das einzige Argument zu sein, das Leugner des Völkermords vorbringen können, um zu behaupten, dass der Angriff in Gaza kein Völkermord sei. In einem Podcast des Deutschlandfunks berichtete Salma Abuzaina über die Situation in Gaza und das mangelnde Interesse der deutschen Medien daran. Als sie erwähnte, dass das israelische Militär absichtlich auf Zivilisten zielt, griff die Journalistin Kristin Helberg ein und widersprach ihr. Obwohl Kristin Helberg allen in dem Gespräch dargelegten Fakten zustimmte, bestand sie nachdrücklich darauf, dass Zivilisten nicht absichtlich angegriffen werden. Sie war sich der Bedeutung dieser Aussage bewusst, dass Israel sich andernfalls des Verbrechens des Völkermords schuldig macht. Die Beweislast liegt nicht bei den Leugnern, sondern bei denjenigen, die ebenso wie BIP argumentieren, dass Israel tatsächlich absichtlich Zivilisten ins Visier nimmt.
 
Der Beweis dafür findet sich in dem Artikel von Yuval Avraham vom +972 Magazine, in dem er hochrangige israelische Geheimdienstmitarbeiter zitiert, die die militärische Vorliebe für das Anvisieren von sogenannten „Machtzielen“ (power targets) erklären – dicht besiedelte Gebiete, Wohngebäude, in denen eine große Zahl von Zivilisten getroffen und getötet werden kann. Weiter erklären sie, dass die mögliche Anwesenheit von Hamas-Kämpfern in diesen „Machtzielen“ als Vorwand benutzt wird, um das Anvisieren von Zivilisten zu legitimieren – nicht umgekehrt. Der israelische Armeesprecher Daniel Hagari verwies auf die Bombardierung des Gazastreifens: „Der Schwerpunkt liegt auf dem Schaden und nicht auf der Genauigkeit.“ Ein Video des israelischen Fernsehens zeigt eine Journalistin, die eine Artilleriebrigade besucht, die Artilleriegranaten segnet und dann die Soldaten ermutigt, sie wahllos in den Gazastreifen abzufeuern, ohne zu zielen, und dabei zu schreien, dass sie den Menschen in Gaza Schaden und Tod zufügen sollen. Bei diesen Granaten handelt es sich um 155-mm-Haubitzengranaten, die Deutschland an Israel liefert (siehe BIP-Aktuell #283). Netanjahus Sammlung von Plänen zur „Ausdünnung“ der Bevölkerung des Gazastreifens und die israelische Strategie zur Entvölkerung des Gazastreifens mit ethnischen Säuberungen und Massakern an denjenigen, die sich weigern oder nicht in der Lage sind, den Gazastreifen zu verlassen (siehe BIP-Aktuell #284), ist ein weiterer Beweis dafür, dass zu den Zielen der israelischen Aggression Zivilisten zu zählen sind.

Palästinenser in Gaza bis auf die Unterwäsche entkleidet, mit verbundenen Augen und gefesselt. Durch die Erniedrigung der Gefangenen sollen palästinensische Kämpfer davon abgehalten werden, sich zu ergeben. Quelle: Israelisches Militär.

 Einen Völkermord als solchen zu bezeichnen, hat eine große Bedeutung: Deutschland ist durch die Konvention zur Verhinderung von Völkermord verpflichtet, den Waffenhandel mit Israel sofort einzustellen. Drittstaaten haben die Pflicht, die Zivilbevölkerung in Gaza zu schützen und Maßnahmen zu ergreifen, um das Töten zu stoppen und israelische Kriegsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen.

 
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BIP Aktuell berichtet an dieser Stelle regelmäßig über Menschenrechtsverletzungen im besetzten Palästina, die in unseren Medien zumeist nicht erwähnt werden.

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  1. i. S. d. P. Dr. Götz Schindler, BIP-Vorstand.

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