„Die Junge Stimme“ – 2. Februar 2023
Die türkische Tageszeitung Evrensel wird seit 1995 herausgegeben und versteht sich als Stimme der Werktätigen und Beschäftigten, der Frauen und Jugend. Mit ihrer journalistischen Tätigkeit bildet sie einen Dorn im Auge der türkischen Regierung, die sich darin versteht, jegliche Berichterstattung im Sinne der Arbeiterbewegung und Solidarität im Keim zu ersticken. Seit ihrer Gründung ist sie von staatlichen Repressalien betroffen, nicht zuletzt, als ihr am 22. August 2022 das Recht auf Werbeschaltungen vollumfänglich entzogen wurde.
Als Junge Stimme haben wir uns im Sommer daher bereits mit Evrensel solidarisiert und sehen sie in ihrem Kampf für unabhängige Berichterstattung als Symbol des Widerstandes. Aber wie steht es heute um die Zeitung? İhsan Çaralan ist Mitbegründer von Evrensel und wir treffen uns über Skype, um uns über die Geschichte der Evrensel, journalistische Neutralität, Unterdrückung und vieles mehr zu unterhalten.
JS: Als die erste Ausgabe herausgegeben wurde, war die politische Situation in der Türkei angespannt. Vor allem war die Zahl der streikenden Beschäftigten sehr hoch. Welche Rolle hat damals Evrensel eingenommen?
İhsan: Als die erste Ausgabe der Evrensel erschien, gab es eine starke Streikbewegung, aber wie du auch sagst, eine angespannte politische Lage. Durch einen Unfall in Balikesir, der bekannt wurde als „Susurluk Kazası“, wurden mafiastaatliche Züge und die politische Zusammenarbeit der Türkei enthüllt, was die Entwicklungsrichtung des Landes offenbarte. In dieser Zeit gab es verschiedene Debatten darüber, wie die Situation zu bewerten sei ,und innerhalb dieser hat natürlich die Evrensel, anders als andere Medienorgane, die Welt und all jene Entwicklungen aus der Perspektive der Arbeiterklasse betrachtet und aus dieser Richtung heraus bewertet. Denn die Zeit um 1995 war geprägt von Streiks und Widerstand, besonders um die Privatisierung von Arbeit. Die Regierung beabsichtigte ganz gezielt, Tabakfabriken, Signalbandfabriken im ersten Schritt zu privatisieren, aber in Wahrheit eigentlich zu schließen. Damit floss Kapital aus diesen Privatisierungen in die Hände der Konzernbosse, indem ein großer Vermögenstransfer durch das Aneignen des Gemeinguts einherging. Evrensel sprach sich hier im Gegensatz zu anderen Medien offen gegen die Privatisierungen aus. Mit anderen Worten hat Evrensel diesen Missstand angesprochen, also aufgedeckt. Für die Arbeiter/innen war dies natürlich neu, was insofern wichtig war, dass Evrensel eine Zeitung war, die über die Arbeiter/innen sprach; bei der sie das Gefühl hatten, dass Evrensel aus ihrer Sicht berichtet. Aber dies war nicht nur für die Arbeiter/innen in der Türkei wichtig, sondern auch für alle Arbeiter/innen der Welt, die die Welt aus der Perspektive der mehr oder weniger bewussten Arbeiterklasse betrachten.
JS: Das heißt, Evrensel hatte auch einen politischen Auftrag. Aber woran konntet ihr den Erfolg von Evrensel bemessen? Wie ist sie zum Werkzeug geworden?
İhsan: Das konnten wir vor allem daran festmachen, als wir unzählige Nachrichten von Arbeiter/innen aus verschiedenen Ländern erhielten, die von ihren Arbeitskämpfen in ihren Betrieben schrieben und wir es druckten. Die Berichterstattung folgt nämlich bis heute von überall aus der Welt. Und so etwas gab es und gibt es auch bis heute nicht so häufig, dass eine Tageszeitung seit nun mehr als 27 Jahren die Perspektive der gesamten Arbeiterklasse abbildet. Daher hat der internationalistische Charakter von Evrensel auch die Aufgabe nicht nur die Türkei abzubilden, sondern ganzheitlich. Entsprechend internationalistisch lesen sich schließlich auch unsere Berichte. Lass mich dir von einer kleinen Anekdote erzählen: Als wir mit der ersten Ausgabe die Schlagzeile „Hier ist die Wahrheit über die Türkei“ veröffentlichten, kam mir das ehrlich gesagt wie ein sehr naiver Titel vor. Wir haben sehr viel darüber diskutiert, ob wir nicht eine schlagfertigere, eine reißerische Schlagzeile hätten formulieren sollen. Aber während wir mit der Zeit an der Zeitung arbeiteten, ist uns aufgefallen, dass unsere Zeitung eigentlich jeden Tag mit dieser Schlagzeile erscheint: Wir drucken das, was an diesem Tag in der Türkei und auf der Welt geschehen ist und zeigen dies aus den Augen der Arbeiterklasse. Evrensel gibt Ansätze wie eine Arbeit, eine Bewegung aufgefangen werden kann und so wurde die Zeitung auch von den Arbeitern angenommen und es wurde sich mit ihr identifiziert. Das hat sich bis heute nicht verändert. Um also zu deiner Frage zurückzukommen, durch die Arbeiter und damit verbunden ihre Leserschaft, wurde sie zum Werkzeug. Daher sind wir überzeugt davon, dass es Evrensel auch weiterhin brauchen wird.
JS: Evrensel ist eine konzernunabhängige Zeitung – von dieser Sorte gibt es nicht viele in der Türkei. Was bedeutet es in diesem Zusammenhang, „die Stimme der Arbeit – die Berichterstatterin der Wahrheit“ zu sein?
İhsan: Zunächst zu unserem Slogan: Wenn man sich die Bandbreite von Zeitungen ansieht, dann werden alle sagen: „Wir drucken die Wahrheit!“, – das sagt Evrensel übrigens auch über sich selbst. Aber was wir sehen, ist, dass alle anderen Zeitungen aus der Sicht ihrer Klasse schreiben, entsprechend ihren Realitäten. Nehmen wir Zeitungen als Beispiel, die sich mit den Regierenden verbunden fühlen. So wie diese Recep Tayyip wahrnehmen, oder wie sich die hinter ihm versammelte Kapitalklasse die Welt erklären möchte, so erzeugen sie ihre Wahrheiten. Wir können es auch noch bildlicher formulieren, indem wir uns einen Turm vorstellen, der viele verschiedene Fenster hat und aus denen die unterschiedlichen Klassen ihre Perspektive auf die Welt haben. Die Arbeiterklasse bewertet ihre Perspektive auf die Welt daher auf Grundlage dessen, was sie sieht und erlebt. Evrensel versucht, den Blick der Arbeiterklasse einzufangen und diese Wahrheit abzubilden. Andere Zeitungen, Fernsehsender oder Medienkanäle schauen eben auf die Welt aus der Sicht ihrer Geldgeber, ihrer Klassenzugehörigkeit und wenn wir das Ganze runterbrechen, dann gibt es im Grunde nur zwei verschiedene Perspektiven auf die Welt und zwei verschiedene Seiten, also Arbeit und Kapital. Aber macht uns das als Evrensel neutral? In der Türkei sind die bekanntesten Zeitungen Hürriyet oder Milliyet, die sich als neutral bezeichnen. Dabei haben wir als Evrensel von Anfang an bekannt gemacht, dass wir nicht neutral sind, sondern auf der Seite der Beschäftigten und der unterdrückten Völker stehen. Und dennoch ist Evrensel dabei unabhängig, nicht etwa von der Arbeiterklasse oder einer Weltanschauung, sondern unabhängig vom Kapital. Sie wird also nicht von irgendwelchen Konzernen finanziert und muss somit nicht im Geringsten darauf achten, irgendwelche Forderungen dieser zu verwirklichen oder sich an diese zu binden. Also ja, Evrensel ist unabhängig, aber nicht neutral.
JS: Wenn wir uns anschauen, welchen Platz die Türkei auf Rangliste der Pressefreiheit belegt, dann können wir einen ernüchternden 149. Platz von 180 feststellen. Auch Evrensel ist von Einschränkungen und Unterdrückung betroffen, wie sieht es heute um die Zeitung aus?
İhsan: Als Evrensel gegründet wurde, wurde die erste Ausgabe sofort eingezogen. Um 16 Uhr standen Polizisten vor der Tür und verkündeten: „Eure Zeitung wurde eingezogen“. Das gleiche mit der zweiten, dritten Ausgabe. Ich kann dir sagen, das erste Jahr lang, also auch das Jahr wo im Land die politische Härte zu spüren war, wurde jede Ausgabe eingezogen. Jeden Tag kam die Polizei. Irgendwann wurde die Situation so absurd, als man sich mit den Beamten kannte und sich beinahe einen guten Tag gewünscht hätte. Ausschlaggebend war das Einziehen allerdings nicht, denn was passierte war Folgendes: Die Zeitung wurde um 16 Uhr eingezogen, aber bis dahin waren schon alle Exemplare an den Zeitungsständen verteilt worden und es gab in diesem Sinne kein händisches Einsammeln der Zeitungen durch die Exekutive, sondern auf Papier ein Gerichtsurteil. Hieraus ergaben sich dann Geldstrafen oder Haftstrafen, die durch das Verstreichen der Zeit erstmal keine direkten Auswirkungen hatten. Aber die Zeitung wurde auch verboten, etwa 1,5 Jahre nach ihrer Erscheinung. Kurz darauf kamen wir als „Emek“ zurück, die auch verboten wurde, danach als „Yeni Evrensel“ und heute erscheinen wir als „tägliche Evrensel“. Seit dem ersten Tag kämpfen wir mit der Staatsanwaltschaft, den Gerichten und der Polizeigewalt. Beispielhaft dafür ist unser Reporter Metin Göktepe, viele kennen ihn. Am 8. Januar 1996 wurde er in Polizeigewahrsam ermordet. Der Kampf um die Aufklärung dieser Tat hat dazu geführt, das zum allerersten Mal Polizisten für den Mord an einem Journalisten verurteilt worden sind. In den 90er Jahren wurden 25 Journalisten seitens der Polizei ermordet, jedoch wurden keine Strafen verhängt. Aber bei Metin Göktepe war es anders, weil Evrensel die Aufklärung des Mordes nicht nur verfolgt hat, sondern dafür gesorgt hat, dass der Mord und die Beteiligten aufgedeckt wurden. Evrensel hat damit eine enorm wichtige Rolle eingenommen, nämlich als Waffe zur Gerechtigkeitsfindung zu funktionieren. Und Polizisten haben das erste Mal für solch einen Mord eine Strafe erhalten. In der jetzigen Zeit werden wir Journalisten auf offener Straße ermordet und Gerichte arbeiten auf Hochtouren, um Zeitungen auf unterschiedlichste Weise einzuschränken, wenn sie Inhalte veröffentlichen, die nicht gefallen. Die Presseagentur selbst agiert im gleichen Atemzug als Zensurapparat. Wir können sie auch als „Repressionssektor” bezeichnen, wenn es heißt, dass Inhalte nicht in Ordnung seien und aus diesem Grund Werbeflächen monatelang verboten werden. Um Evrensel komplett loszuwerden, haben sie uns das Recht auf Werbeschaltungen vollumfänglich entzogen. Dagegen führen wir heute den Kampf. Aus diesem Grund lässt sich sagen, dass gleich mit der ersten Ausgabe Evrensel eigentlich Kämpfe gegen jegliche Hindernisse und Ungerechtigkeiten führen musste. Hinter Evrensel steht keine Konzerngruppe, die sich die Zeitung aneignet und hochhält, sondern die Beschäftigten und Werktätigen, die Evrensel kaufen, lesen, verteilen und somit einen politischen Kampf führen. Damit Evrensel so standhaft bleibt, werden wir zweifelsfrei auch heute weiter kämpfen müssen. Auch wenn durch Erpressung und das Entziehen unserer Rechte versucht wird, Evrensel klein zu halten, denke ich, dass Evrensel nicht aufzuhalten ist. Denn genauso wie sie sich bis heute zu ihrem Erfolg durchgekämpft hat, wird sie es auch weiterhin tun.
JS: Auf der ganzen Welt erhöhen sich die Preise, verschlechtern sich Arbeits- und Lebensbedingungen und zeigen die Notwendigkeit für internationale Solidarität. Wieso ist es wichtig, sich mit Evrensel zu solidarisieren? Und wie können wir in Europa Evrensel lesen, auch wenn wir kein Türkisch verstehen?
İhsan: Seit der ersten Ausgabe erlebt Evrensel internationale Solidarität, das wurde vor allem durch internationale Reaktionen auf die Repressionen uns gegenüber deutlich. Es haben uns motivierende Nachrichten erreicht, unsere Redaktion wurde besucht und andere ähnliche Dinge. Natürlich, Evrensel erscheint in erster Linie in der Türkei und überwindet die Probleme in diesem Land durch die Solidarität der Werktätigen und Beschäftigten. Wenn sich aber beispielsweise türkeistämmige Arbeiter aus anderen Ländern mit Evrensel solidarisieren, dann ist diese Unterstützung für uns ein großes Zeichen. Und gerade weil wir diesen internationalistischen Charakter haben, den ich vorhin erwähnt habe und im Grunde jeden Tag die Perspektive der Arbeiterklasse einnehmen, kann Evrensel auch überall auf der Welt gelesen werden. Die englischen Seiten* sind dabei sehr hilfreich.
JS: Häufig wird der Jugend vorgeworfen, sie würde nicht mehr lesen oder Printmedien seien nicht mehr zeitgemäß. Wie siehst du das?
İhsan: Klar gibt es den Wunsch, dass die Jugend Evrensel liest und sie sich an ihrer Herausgabe auf direktem Wege beteiligt. Aber diese absolute Situation haben wir nie gehabt, weder damals noch heute. Die älteren Generationen, die einen, meiner Meinung nach, problematischen Blick auf die Jugend werfen, glauben, sie hätten in ihrem Alter mehr über alles Bescheid gewusst und die Jugend von heute sei apolitisch. Ich sehe das nicht so. Im Gegenteil, heute ist die Infrastruktur für Berichterstattung so vielfältig und die Jugend hat durch die Verfügbarkeit dieser Technologien die Möglichkeit, sich an einem gewissen Standard an Informationen zu bedienen. Es wäre also falsch von einer Jugend zu sprechen, die keine Ahnung hat von dem, was auf der Welt passiert. Viel eher kann man sagen, dass nicht jeder Jugendliche auf die gleiche Art und Weise die Informationen und die Vielfalt an Möglichkeiten zu seinen Gunsten verwerten kann. Was diese Informationszugänge für weitere Möglichkeiten bieten werden, das werden wir sehen, wenn die Jugendbewegung sich weiterentwickelt. In diesem Sinne wird die Jugend irgendwann auch mehr lesen – Zeitungen an sich und vor allem auch Evrensel lesen.
Das Interview führte und übersetzte aus dem Türkischen Dirim Su Derventli
Ihr habt Interesse an Evrensel? Hier könnt ihr auf die englischen Seiten zugreifen und ein Abo abschließen: https://www.evrensel.net/daily/news/ Um Evrensel zu unterstützen kann auf folgendes Konto unter dem Stichwort „Pressefreiheit“ gespendet werden: Kontoinhaber: DIDF, IBAN: DE59 3701 0050 0319 6835 09, BIC: PBNKDEFF.
Erstveröffentlichung am 11. Februar 2023 auf »Die Junge Stimme«. Wir danken den Genossinnen und Genossen von »Die Junge Stimme« für ihre gute Arbeit und der Genehmigung der Weiterveröffentlichung. Bilder und Bilduntertexte wurden ganz oder zum Teil von der Redaktion »RoterMorgen« hinzugefügt.
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