
Cayan Kartal – YeniHayat (NeuesLeben) – 25. Januar 2025
Über das Wochenende befand ich mich aus privaten Gründen in Istanbul, und ich konnte mir zufällig live vor Ort ein Bild von den Protesten gegen die Verhaftungen und die Absetzungen des Oberbürgermeisters İmamoğlu machen. Mein Aufenthalt war im Stadtteil Şişli.
Der Stadtteilbürgermeister von Şişli ist inzwischen auch inhaftiert, und an seine Stelle wurde ein Zwangsverwalter eingesetzt. Auch vor dem Rathaus in Şişli gibt es Widerstand: Hunderte Menschen führen dort tagtäglich Kundgebungen durch, trotz Versammlungsverbots und hunderter Polizeikräfte, die von gepanzerten Fahrzeugen und Wasserwerfern begleitet werden. Das Versammlungsverbot gilt für ganz Istanbul. In den zentralen Stadtteilen sieht man überall Polizeikräfte – teils schwer bewaffnet. Straßen sind abgesperrt, teils gibt es keinen öffentlichen Verkehr mehr, und U-Bahn-Haltestellen sind geschlossen. Es müssen Tausende, vielleicht Zehntausende Polizisten und Spezialeinheiten sein, die in Hotels übernachten und wahrscheinlich aus anderen Gebieten hergebracht wurden. Es ist im ersten Moment beängstigend und ähnelt einem Kriegszustand. Anscheinend hat das Ein-Mann-Regime große Panik vor einem Brand oder einem Feuer, das sich ausweiten könnte.

.Taksim von Polizeikräften besetzt
Mit İmamoğlus Verhaftung wurde auch der Vorstand der Istanbuler Rechtsanwaltskammer von einem Gericht abgesetzt. Deswegen demonstrierten spontan Hunderte Juristen trotz Verbots und Einschüchterungsversuchen der Polizeieinheiten durch die Innenstadt am Taksim-Platz bis zur Anwaltskammer. Da ich vor Ort war, konnte ich eine bemerkenswerte kämpferische Stimmung wahrnehmen.
Alle sprechen von den Protesten und den möglichen nächsten Reaktionen des Erdoğan-Regimes. Und in den Augen funkelt die Hoffnung auf Veränderung. Bei Gesprächen mit zwei Taxifahrern berichtet mir einer, dass er zwar kein İmamoğlu-Anhänger sei, sich aber auch wegen der zunehmend schlechter werdenden Lebensbedingungen an den Protesten beteiligt habe. „So kann es nicht mehr weitergehen“, sagt er zu mir. Ein anderer Taxifahrer erklärt, es müsse ja etwas an den Anschuldigungen gegen İmamoğlu dran sein. Die CHP und die Protestierenden würden einen Bürgerkrieg wollen. Wahrscheinlich stammen diese Aussagen aus einem der vielen Fernsehkanäle, die dem Regime treu ergeben sind.
Gemeinsam zum CHP-Wahllokal!
Ich kontaktiere meinen Onkel, um ein kleines Wahllokal in einem kleinen Bezirk zu besuchen, um mich zu solidarisieren. Die Partei CHP hat an einem Sonntag ihre Mitglieder, aber auch Nichtmitglieder aus Solidarität aufgerufen, sich an der Vorwahl für die Präsidentschaftskandidatur von İmamoğlu zu beteiligen. Es wurde quasi eine Solidaritätsurne aufgestellt, an dem Wahllokal kommt es zu langen Warteschlangen. Die Beteiligung ist hoch, es gleicht einer Kundgebung trotz Versammlungsverbots. Bei einem längeren Gespräch erzählt mir mein Onkel, inzwischen Rentner, von den Demonstrationen, an denen er sich auch seit Jahrzehnten beteiligt hat. Es müsse irgendwann genug sein, diesen Kampf müssten wir jetzt gewinnen. „Wir wollen endlich demokratische Zustände und müssen uns von dem Ein-Mann-Regime befreien.“ Er ist seit seiner Jugend gewerkschaftlich aktiv, wurde dann auch mit dem faschistischen Militärputsch 1980, wenn auch nur kurz, inhaftiert, und seine Gewerkschaft wurde aufgelöst und zerschlagen. Er beteiligte sich auch an den Gezi-Protesten 2013, jetzt ist er wieder mit dabei.

Widerstand in Saraçhane – Gezi 2.0!
Mein Onkel ist seit Anfang der Proteste in Saraçhane dabei, wo sich das Istanbuler Rathaus befindet. Er kennt sich dort sehr gut aus und weiß, über welche Wege man dorthin kommt, da nicht alle Bahnen fahren und weil die Polizei alles abgesperrt hat. Wir laufen an etlichen Polizei- und Sondereinsatzkräften, zig Wasserwerfern und gepanzerten Fahrzeugen vorbei, und es gibt regelmäßig Gasgranaten, die in die Menge geschossen werden. Aber vor Ort herrscht eine mutmachende, kämpferische Stimmung. Auffällig viele Jugendliche, Studenten, aber auch viele Rentner sind vor Ort. Es werden bis zu eine Million Demonstranten an dem späten Abend auf dem Platz erwartet, trotz Einschüchterung und Repressionen. Die Massen auf dem Platz sind fest der Überzeugung, weiterzumachen, bis das undemokratische, autoritäre Regime fällt. Neben der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP sind auch andere sozialistische und kommunistische Parteien sowie Organisationen vor Ort, aber auch anarchistische Gruppen, Fußballfans von Fenerbahçe und Galatasaray, Studenten der verschiedenen Universitäten, Arbeiter. Man sieht auf dem Platz auch die Gewerkschaftsfahnen der Gewerkschaftsdachverbände DISK und KESK. Bei einem Gespräch mit einem Aktivisten der EMEP (Partei der Arbeit) wird mir erzählt, dass man sich auf die Organisierung und Beteiligung der Arbeiter konzentrieren sollte, damit letztendlich der Widerstand durch einen Generalstreik nochmals gestärkt wird. Viele Jugendliche zeichnen Plakate auf dem Platz, es existiert eine fröhliche und hoffnungsvolle Stimmung. Es scheint, dass der Geist des Gezi-Aufstandes wiederbelebt ist.
Solidarität, jetzt erst recht!
Am nächsten Tag ist der Rückflug, und die Gedanken bleiben in Istanbul. Gerne wäre ich geblieben und hätte mehr unterstützt. Das Gefühl, das ich jetzt habe, ist, als ob man die Menschen im Stich lässt, aber ich bin froh, diesen Protest gesehen zu haben. Es macht Hoffnung auf einen Umbruch. Jetzt muss aber auch mehr in Deutschland passieren: Man muss darüber aufklären, berichten und sich mit den Menschen solidarisieren. Die Unterstützung des Ein-Mann-Regimes, das durch Deutschland wirtschaftlich und auch militärisch eine starke Verbindung hat, muss umgehend gekappt werden. Jetzt muss man sich einsetzen für die Freilassung aller politischen Gefangenen und für den Aufbau einer unabhängigen demokratischen Republik. Solidarität ist das Gebot der Stunde.
Erstveröffentlichung am 24. März 2025 auf »YemniHayat«. Wir danken den Genossinnen und Genossen von »YeniHayat« für ihre gute Arbeit und der Genehmigung der Weiterveröffentlichung. Bilder und Bilduntertexte wurden ganz oder zum Teil von der Redaktion »RoterMorgen« hinzugefügt, die Rechtschreibung verbessert und aktualisiert.
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Zum Thema Gendern: Das in Mode gekommene »Gendern« und die damit einhergehende Sexualisierung der Sprache widersprechen der marxistischen Erkenntnistheorie, nach der das Sein das Bewusstsein prägt und nicht das Geschlecht. Auch in der traditionellen deutschen Sprache steht nicht das Geschlecht im Vordergrund, sondern der Mensch. Aus diesem Grund gendern wir nicht, respektieren jedoch den Willen anderer, dies in ihren Texten zu tun, die wir daher nicht verändern. Mehr dazu könnt ihr hier nachlesen.
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