Der rote Faden zur roten Anarchie

Volkskorrespondenz zum Wochenede
Heinz Ahlreip – 29. Juli 2023

Heinz Ahlreip

Der rote Faden der roten Anarchie nimmt in der Neuzeit 1525 seinen Ausgangspunkt in der radikalsten Tatsache der deutschen Geschichte – im deutschen Bauernkrieg. In diesem forderten die vom Adel und Klerus bis auf die Knochen ausgebeuteten Bauernmassen die ersatzlose Abschaffung des Zehnten, auch Zehend oder Dezem.  Darunter ist zu verstehen, dass die Bauern gemäß Stellen im Alten Testament ein Zehntel ihres regelmäßigen Einkommens der Kirche Gottes zu übergeben haben.

In der Regel geschah das im Mittelalter in Form von bodengebundenen Naturalien und Schlachtvieh. Spenden kann man hier schlecht sagen, denn Spenden sind freiwillig bei selbstbestimmtem Betrag. Diese Verweigerung war eine Kampfansage an die Obrigkeit, nach Friedrich Engels die Antizipation des Kommunismus in der Fantasie. Der Schlag richtete sich also zunächst, anfangs, aber nur anfangs, noch getrieben von Dr. Martin Luther, gegen das feudalabsolutistische katholische Pfaffentum. Er war so gewaltig-erschütternd, dass der deutsche Bauernkrieg zu den Lichtblicken in der deutschen Geschichte zu rechnen ist, von denen es so erschreckend wenig gibt. Die Traditionskette der Klassenkämpfe in Deutschland ist eine unansehnlich verbogene, fast eine fortlaufende Serie von Duckmäusertum an Duckmäusertum.

Bauernkrieg in Oberschwaben – Bauern fordern Verzicht auf Abgaben wie Hühner und Eier und warnen vor Gewalt

Ein weiteres deutliches Zeichen, dass die Zeichen der Zeit sich auf eine Gärung, auf ein Aufbegehren gegen das feudalabsolutistische Gesellschaftssystem richteten, war die Erkenntnis des Schweizer Philosophen Rousseau 1743 in Venedig, nachdem er sich mit der Geschichte dieser Stadtrepublik und mit den Schriften Machiavellis auseinandergesetzt hatte, sah er, dass in Zukunft das Schicksal der Menschheit von der Politik bestimmt sein wird wie bisher von Religion und Metaphysik. 1749 ist es wiederum Rousseau, der in einer Metanoia, einer Art innerer Umkehr, zu der fundmentalen Einsicht gelangt, dass die Institutionen verantwortlich für das Unglück der Völker zeichnen. Rousseau, der Abgott Robespierres, vertrat zudem die Auffassung, dass derjenige, der anderen Menschen Befehle geben will, krank sein muss. Es hatte sich also schon vor 1789 in den Köpfen genug Brennstoff angesammelt und Dr. Guillotin machte eine humane Erfindung, denn das Regime der Ludwige wandte noch die Strafe der Vierteilung an.

Jean-Jacques Rousseau, Pastell von Maurice Quentin de La Tour, 1753

40 Jahre nach der Metanoia ergeben sich die drei Kernelemente der französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aus den Überlegungen Rousseaus und der bürgerlichen Aufklärung in der politischen Praxis. Ihrem theoretischen Gehalt nach hatte die klassische französische Revolution Staatenlosigkeit bzw. Institutionsabstinenz zu intendieren. Diese Revolution trug jedoch zwei Gesichter, ein fortschrittliches und eines mit zu vollem Mund.   Sie ist ein Glied in einer Theoriekette des Fortschritts revolutionären Bewusstseins, die den Geboten: Theoretische Vorherbestimmungen, alles, was die Menschen bewegen soll, muss durch ihren Kopf hindurch, politische Praxis bzw. realpolitische Auswirkungen und Aufschlüsselung ihres Wesens post festum als Lernansatz für kommende Generationen folgt: 1743 und 1749 –Fundamentalerkenntnisse Rousseaus, die die Revolution stimulieren und provozieren, es sei unerträglich in einer Gesellschaft leben zu müssen, in der jeder ein anderer als er selbst ist und in der jeder nur in der Vorstellung der anderen lebt, sodann der 26. August 1789: Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Also 1743, 1749, 1789 und dann 1806 und 1845. In diesen beiden letzten Jahren ging es um die Aufdeckung ihres Wesens. 1806 bestimmt Hegel das Wesen der französischen Revolution als die die Anarchie zu konstituieren strebende Anarchie, er legt sie also eng affin an Rousseau an. Daran sollte man noch heute die bürgerlichen Ideologen erinnern. Diese plumpen Menschen verbrennen sich heute ständig die Zunge, ohne es zu merken.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel,
porträtiert von Jakob Schlesinger, 1831.

Hegel empfand seine Zeit als eine entscheidende der Weltgeschichte und in diesem Sog der Aufopferung für höhere Werte leben wir noch heute. Die fortschrittlichen Menschen haben heute nach der großen französischen Revolution eine Erwartungshaltung nach Großem. Was ist es, das uns tagsüber in die innere Unruhe und nachts in die schlaflose Nacht treibt? Es ist dasjenige, was Marx im 18. Brumaire die “unbestimmte Ungeheuerlichkeit“ der proletarischen Revolution nannte, dass wir unsere verkehrte Welt und die in ihr übers Ohr gehauene Menschheit ganz ohne Wahnsinn des Eigendünkels richten, sie ganz und gar entsklaven können. `‘Entsklaven‘ ist ein nicht im Duden aufgeführtes Wort. Zufall? Zugleich strich Hegel, der die Weltgeschichte als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit bestimmte, die ungeheure Schwierigkeit hervor, das Prinzip der französischen Revolution als in sich vollbringende Arbeit des Weltgeistes in die Weltgeschichte einzubilden.  Nach der Seite des Idealismus nun der Materialismus: 1845 unterlegen Marx und Engels dieser bürgerlichen Revolution eine kommunistische Unterströmung. 1789 habe die kommunistische Idee hervorgetrieben. “Diese Idee, konsequent ausgearbeitet, ist die Idee des neuen Weltzustandes“ (Karl Marx, Friedrich Engels: Die heilige Familie, Werke, Band 2, Dietz Verlag Berlin, 1960,126). Nüchtern ökonomisch betrachtet ging es in der französischen Revolution um die pure Durchsetzung des Kapitalismus – weiter nichts.

Darauf fiel natürlich das Hauptaugenmerk, wobei von bürgerlicher Seite verschüttet wurde, was sich zwischen 1789 und 1848 in 60 Jahren an Theorie der Bewegung und praktischem Klassenkampf der Arbeiterklasse tat. Natürlich musste sich eine so vehemente Umwühlung aller Verhältnisse wie 1789 befruchtend auf weiterschreitende Erkenntnisse in der Theorie des Klassenkampfes und auf die Bedeutung der Produktivkräfte auswirken. Schon in das Ende der bürgerlichen Revolution hatte sich im Juli 1794 der Agrarkommunismus Babeufs festgebissen, der ökonomisch unterlegten bürgerlichen Forderung nach Abschaffung der Klassenprivilegien folgte die der Klassen selbst durch die Verschwörung der Gleichen. Aus dem stets heißen Krater von 1789 eruptierte durchaus Proletarisches: 1806 ein Streik der Bauarbeiter in Paris, Streiks in mehreren großen Fabrikstädten, u. a. der Hutmacher in Lyon mit der Basis nunmehr die ‘Großen Industrie‘ und nicht der Agrarscholle. Die moderne proletarische Bewegung begann doppelt sittenwidrig: 1794 mit einem agrarkommunistischen Ansatz und mit primitiver Maschinenstürmerei entlang des Rheins. Zwischen 1825 und 1827 bedeutende Handwerkerstreiks in Paris. 1830 dann der Sturz Karls X. Erst ab diesem Jahr datiert die Abschaffung des Zehnten. Im Mai 1839 ist ein weiterer Nachzügler der französischen Revolution zu verzeichnen: Es ist der Blanqui-Barbès-Aufstand der ‘Gesellschaft der Jahreszeiten‘ in Paris (Vergleiche David North,  1917 Die russische Revolution und das unvollendete zwanzigste Jahrhundert, Mehring Verlag, Essen, 2015, Seite 291).

Die 48er-Revolution bringt in ihrem Vorfeld durch Proudhon, dem Begründer des Anarchismus, einen Schlüsselsatz des 19. Jahrhunderts hervor, den Rousseau 1755 im zweiten Diskurs über die Ungleichheit schon vorformuliert hatte: ‘Eigentum ist Diebstahl‘. Kurz vor dem Ausbruch dieser bürgerlichen Revolution brachten es Marx und Engels im ‘Kommunistischen Manifest‘ auf den Begriff: Der Kern einer proletarischen Revolution bildet die Vergesellschaftung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Aber es gilt hier, präzise zu arbeiten: Wortwörtlich findet sich die Formulierung: Vergesellschaftung des Privateigentums an den Produktionsmitteln im Manifest nämlich nicht. Marx und Engels sprechen im Kommunistischen Manifest lediglich bzw. umfassender von der Vergesellschaftung des Privateigentums. Wir nehmen den wichtigen Gedanken im Manifest hinzu, dass seit Dezennien die moderne Geschichte nichts als die Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse ist. So erst ergibt sich die Vergesellschaftung des Privateigentums an den Produktionsmittel. Diese Forderung geht nicht genuin auf Marx und Engels zurück, fand aber und findet durch das Manifest ihre regeste Verbreitung. Es kann nicht bezweifelt werden, dass wir uns hier im Brennpunkt des historischen Materialismus befinden, dass auch jedem roten Faden zur roten Anarchie, also jedem roten Faden zum Kommunismus, das Wechselverhältnis zwischen Produktivkräfteentwicklung und der Entwicklung der Produktionsverhältnisse grundlegend eignet. Dieses Wechselverhältnis macht die Weltgeschichte als Emanzipationsempörungsgeschichte aus. Schon vor dem Manifest aus dem Jahr 1848 hatte Engels während seines ersten Manchesteraufenthaltes ab 1842 erkannt, dass nicht der bürgerliche Staat die bürgerliche Gesellschaft bedingt, sondern umgekehrt, diese ihn. Ein Meilenstein, genauso wie seine im Januar 1844 in Paris verfasste Erstveröffentlichung: ‘Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie‘, eine Frühschrift, die Marx als genial bezeichnete. Der Anfangssatz, ein Paukenschlag, mag genügen: “Die Nationalökonomie entstand als eine natürliche Folge der Ausdehnung des Handels, und mit ihr trat an die Stelle des einfachen, unwissenschaftlichen Schachers ein ausgebildetes System des erlaubten Betrugs, eine komplette Bereicherungswissenschaft.“ (Friedrich Engels, Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie, Werke, Band 1, Dietz Verlag Berlin, 1960,499). Und dieser Bereicherungswissenschaft sind heute alle hochgebildeten Menschen untertan. Also ein weiterer ganz wichtiger Schritt auf dem Weg zum wissenschaftlichen Sozialismus.

Barrikadenkampf in Berlin, 1848

1525, nicht lokal auf Deutschland beschränkt, dann im 17. Jahrhundert der verheerende 30jährige Krieg, 1789 und 1848, das sind tiefe Einschnitte in die geschichtliche Kontinuität Europas. Auch die Pariser Commune begründet eine neue Ära, die der Diktatur des Proletariats und die der Räte. Mit dem Ausbruch der Pariser Commune am 26. März 1871 lag zum ersten Mal in der Geschichte eine Diktatur der Mehrheit vor als erster Anlauf der Einbildung der drei   Humanprinzipien der französischen Revolution im Vollzug einer Weltrevolution in Angriff zu nehmen. Wie in Paris das Urmeter liegt, so bleibt dieses tabubrechende Ereignis das Pariser Urbild einer Rätemacht, deren Fahne die der Weltrepublik ist. Die Räte der Commune verhalten sich zum bürgerlichen Parlament systempolitisch antagonistisch, wie der Geschlechtsverkehr zur Onanie:  Keine das fleißige Volk erniedrigende unverschämt hohe Diäten für das Herumlümmeln und Schreie ausstoßen auf den Sesseln des Parlaments. Die Mitglieder der Commune erhielten den Durchschnittslohn eines Arbeiters und waren jederzeit absetzbar.

Februar-Revolution 1917: Soldaten und Revolutionäre feuern auf Hinterhalte der Polizei

Es ist naheliegend, von den Communeräten sofort zu den Sowjets  von Petrograd und Moskau zu springen, es wäre aber kurzsichtig, sofort zur roten Sowjetrevolution im Oktober 1917 zu springen, denn dazwischen lag noch die russische Revolution von 1905 mit der Geburtsstunde  der russischen Räte, in Russland Sowjets  genannt. Zwar wird Trotzki Vorsitzender des Petersburger Sowjet, kann aber nicht wie Lenin in den Sowjets Keimformen des Absterbens jedes Staates eruieren. Die Sowjets bilden somit eine Schlüsselkategorie der proletarischen Revolution. Aber 1905 lag eine kleinbürgerliche Sowjeterhebung vor, die ihre unmittelbaren Ziele, den Sturz des Zaren und den 8-Stunden-Tag nicht erreicht hatte. Die Generalprobe für 1917 ging daneben. 1905 war Lenins Kaderkriegspartei noch zu klein, um die Regie über ganz Russland zu übernehmen. 1917 war sie es nicht mehr. Rapide Zunahme bei den Mitgliedszahlen und ein rapider Linksruck in den Sowjets hatten das morsche Kerenski-Regime sturmreif gemacht. Im Rausch der Oktoberrevolution schien nichts unmöglich, die Revolutionäre sahen in ihr die Anfangsschritte hin zu einer uniformfreien Weltgesellschaft, in der die Menschheit friedlich zusammenarbeitet. Anarchie als absolute hat den Wendungspunkt ihrer Überwindung in ihr selbst.

Eine letzte kleine Bemerkung sei mir noch gestattet. Wir hatten vernommen, dass die Generalprobe von 1905 für die Oktoberrevolution 1917 in die Hose ging. Lenin sagt 1920, dass es ohne 1905 kein 1917 gegeben hätte. Der harte Kern der Bolschewiki sackten in der finsteren Periode nach 1905 nicht ein, so dass sich die Worte Stalins bewahrheiteten: Um in der Politik nicht fehl zu gehen, muss man Revolutionär sein und nicht Reformist.
.
Erstveröffentlichung »Der Weg zur Partei« 29. März 2023. Eine Weiterveröffentlichung des Textes ist gemäß einer Creative Commons 4.0 International Lizenz ausdrücklich erwünscht. (Unter gleichen Bedingungen: unkommerziell, Nennung der verlinkten Quelle (»Der Weg zur Partei«) mit Erscheinungsdatum). Hervorhebungen und Verlinkungen wurden von der Redaktion Roter Morgen vorgenommen.

.

zurück zur Startseite
hier geht es zur Facebook Diskussionsgruppe

Sag uns deine Meinung zum Artikel mit einem Kommentar/Leserbrief

 

Lest die Klassiker und studiert den Marxismus-Leninismus!

bestellen LESEPROBE …. bestellen LESEPROBE

.

Kontakt: Info@RoterMorgen.eu

.

1 Kommentar

  1. Wann genau haben Anarchisten mal irgendeinen Erfolg bei der Zerschlagung des hochorganisierten und -gerüsteten Marionettenstaates des Finanzkapitals gehabt?
    Die Anarchie kann erst aus der Diktatur der Arbeiterklasse durch ABSTERBEN des Staates entstehen und heißt auch Kommunismus. Den zweiten Schritt vor dem ersten zu machen, KANN nicht funktionieren.
    Diese geheimdienstunterwanderten Spinner ziehen schädlicherweise nur Kräfte aus der Arbeiterbewegung ab.

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*