Volkskorrespondent Heinz Michael Vilsmeier – 26. Mai 2021
Im ICE, auf dem Weg nach Hamburg, las ich soeben im konsequent gegenderten Magazin der Deutschen Bahn, ein Interview mit dem Juristen und Bestsellerautor Ferdinand von Schirach. Darin antwortet der Autor auf die Frage der Interviewerin, was die von ihm vorgeschlagenen sechs neuen Grundrechte mit ihrem Alltag zu tun hätten: „Die Grundrechte betreffen Sie überall in Ihrem Leben – ob Sie sich im Internet bewegen und Sorge haben, dass Sie ausgeforscht und manipuliert werden, oder ob Sie ein T-Shirt kaufen, von dem Sie nicht wollen, dass es in einer Höllenfabrik von Sklaven hergestellt wurde. Oder ob Sie in einer gesunden Umwelt leben wollen, wie vermutlich ja die meisten Menschen.“
Von Schirach möchte wohl mit den neuen Grundrechten, dem Recht darauf, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben, dem Recht auf digitale Selbstbestimmung, dem Recht auf Transparenz, Überprüfbarkeit und Fairness der die Menschen betreffenden, auf künstlicher Intelligenz basierenden Algorithmen, dem Recht darauf, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen, dem Recht darauf, nur Waren und Dienstleistungen angeboten zu bekommen, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt wurden und dem Recht auf Einklagbarkeit dieser Grundrechte vor europäischen Gerichten, den Rahmen wiederherstellen, den die Demokratie im Kapitalismus benötige. Darüber, so Schirach, solle jede/r Bürger/in online abstimmen können.
Was er vorschlägt, klingt einerseits vielversprechend, andererseits ein wenig naiv, denn wie wir wissen, ziehen sich Ausbeutung des Menschen und der natürlichen Lebensgrundlagen nicht nur durch die gesamte Menschheitsgeschichte, sondern erfuhren mit der Durchsetzung der universellen Menschenrechte im Kapitalismus sogar neue Höhepunkte. Die grundlegenden Bürgerrechte sind nicht nur unlösbar verknüpft mit der bürgerlichen Produktionsweise, sondern geradezu deren Grundlage. Ohne freie Bürger/innen hätte sie sich niemals entwickeln können. Der Kapitalismus machte es notwendig, dass Mensch und Natur freigesetzt wurden, um die Akkumulation des Kapitals zu ermöglichen. Was sich im Zuge der zivilisatorischen Entwicklung zur kapitalistischen Produktionsweise neu ergeben hatte, war lediglich die Abstraktion von Herrschaft und Ausbeutung.
Es bedurfte jenes, im Mai 1883 im Alter von 64 Jahren verstorbenen deutschen Philosophen und Ökonomen, der aufdeckte, wie Ausbeutung im Kapitalismus funktioniert. Karl Marx entlarvte die, dem Kapitalismus innewohnenden Form der Ausbeutung, als diskreten, ökonomisch wirksamen Mechanismus. Damit strafte er die Ideologen des Bürgertums, die das Narrativ der Freiheit verbreiteten, Lügen und gab dem von der Bourgeoisie ausgebeuteten Proletariat das theoretische Instrumentarium an die Hand, das es benötigte, seine Rolle innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise verstehen und einen Weg aus der Misere finden zu können.
Die Ausbeutung des Menschen ist ohne die Ausbeutung der Natur ebenso wenig möglich, wie die Ausbeutung der Natur ohne die Ausbeutung des Menschen. Beide Formen der Ausbeutung wohnen der kapitalistischen Produktionsweise inne. Wer, wie Sahra Wagenknecht und die von ihr gerühmte „traditionelle Linke“ diesen Zusammenhang leugnet, wird bestenfalls dort enden, wo der einst real existierende Sozialismus endete. Und wer wie sie die Antwort auf die soziale Frage über die Lösung der ökologischen Krise stellt, vertieft die Uneinigkeit zwischen der Arbeiterbewegung und der Ökologiebewegung.
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