9. Januar 2025: 120 Jahre Petersburger Blutsonntag

Volkskorrespondenz zum Wochenede
Heinz Ahlreip – 3. Januar 2025

Heinz Ahlreip

1843 hatte der junge Marx an Arnold Ruge geschrieben: „Das Prinzip der Monarchie ist die Menschenverachtung, ist der entmenschte Mensch.“¹ Am 9. Januar 1905 wurde dies in Petersburg auf grausamste Weise greifbar. Kein Monarch hatte damals mitfühlende Worte für erschossene Frauen und Kinder gefunden. Monarchien hatten und haben noch nie Mitleid mit unterdrückten Menschen – und können es auch nicht haben.

Die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert barg beträchtliches politisches Potenzial. Das Jahr 1900 markierte eine Zäsur: Der klassische, warenexportierende „fortschrittliche“ Konkurrenzkapitalismus wandelte sich in den dekadenten, kapitalexportierenden Monopolkapitalismus. Diese Wende war begleitet von einer Wirtschaftskrise und imperialistischen Kriegen. Im Jahr 1900 erreichte der Boxeraufstand in China seinen Höhepunkt. Dieser Aufstand, der von jungen Landarbeitern und Frauenmilizen initiiert wurde, wies durchaus antiimperialistische, zugleich antichristliche Züge auf. Er richtete sich gegen christliche Missionare, das Profitstreben und zündete Kirchen sowie Einkaufsviertel an. Der Aufstand wurde von zaristischen, japanischen, deutschen, englischen und französischen Truppen brutal niedergeschlagen.

China war zu jener Zeit ein wenig geschütztes Land und weckte Begehrlichkeiten. Sowohl der zaristische, von einem Gelbrussland träumende Imperialismus aus dem Norden, als auch der junge, von englischen Imperialisten heimlich unterstützte japanische Imperialismus aus dem Osten, warfen ein Auge auf Korea und die Mandschurei. Aus dieser Rivalität um die Dominanz im Pazifik erwuchs der Russisch-Japanische Krieg. Im Januar 1904 überfielen japanische Truppen ohne Kriegserklärung die russische Festung Port Arthur. Zar Nikolaus II. sah im Krieg die Möglichkeit, die sich abzeichnende revolutionäre Bewegung zu ersticken. Doch das Gegenteil trat ein.

Im Dezember 1904 fand in Baku ein mächtiger Streik gegen die Erdölindustriellen statt; im Januar 1905 folgte ein Streik in den großen Putilow-Werken in Petersburg. Auslöser war die Entlassung von vier Arbeitern. Die heutige VW-Führung könnte hier durchaus aufhorchen – ebenso wie die bigotte Metallgewerkschaft. Trotz der Sabotage durch einen Ochrana-Agenten, den Pope Gapon, der sich an die Spitze des Streiks stellte, entwickelte sich in Russland 1905 eine Revolution. Gapon führte die gutgläubigen Massen in einen Hinterhalt: Er überredete sie, am Sonntag, dem 9. Januar, unbewaffnet zum Winterpalast zu ziehen, um dem Zaren eine Bittschrift zu überreichen.

In Diskussionsabenden, an denen unerkannt Kommunistinnen und Kommunisten teilnahmen, wurde die Petition formuliert und geschärft. Der Fokus wurde auf politisch-soziale Anliegen verschoben: Achtstundentag, Übergabe des Bodens an die Bauern, Presse- und Redefreiheit, die Einberufung einer Konstituierenden Versammlung zur Reform der Staatsordnung, Gleichheit vor dem Gesetz, Trennung von Staat und Kirche sowie die Beendigung des Krieges. Die Kommunistinnen und Kommunisten warnten dabei eindringlich, dass der Zar schießen lassen werde – doch ihre Warnungen blieben ungehört.

So setzte sich am Morgen des 9. Januar ein bizarr anmutender Zug aus hungernden Frauen, Arbeitern, Greisinnen und Kindern in Bewegung – etwa 140.000 Teilnehmer, die Ikonen, Kirchenfahnen und Zarenporträts trugen. Sie sangen Kirchenlieder und bewegten sich vertrauensvoll auf das Winterpalais zu, getragen von der feudal-religiösen Hoffnung, der Zar werde ihre Not lindern. In ihrer Petition hieß es: „Wir suchen Wahrheit und Schutz, sind verelendet und mit unsagbar schwerer Arbeit belastet. Uns würgen Despotismus und Willkür. Man sieht in uns keine Menschen. Der Tod ist besser als das Fortleben in diesen unerträglichen Leiden.“

Der Blutsonntag (9. Januar 1905) | Zeitgenössische Darstellung von Wladimir Jegorowitsch Makowski | Quelle: Archiv RoterMorgen

Doch diese erschütternden Sätze erreichten den Zaren nicht. Stattdessen ließ der selbsternannte „Vater des Volkes“ auf seine Landsleute schießen. Über tausend Menschen wurden getötet, mehr als zweitausend verwundet. Dieser Tag ging als Blutsonntag in die Geschichte ein. Ab diesem blutigen Ereignis sprach niemand mehr vom Volkszaren. Der Weg zur Befreiung führte nicht über Petitionen, sondern über den selbständigen Kampf um Menschenrechte – notfalls mit der Waffe in der Hand. Die fortgeschrittensten Arbeiter schlossen sich den Bolschewiki an. Bauernaufstände flammten auf, in den Arbeitervierteln bildeten sich Sowjets. Im Dezember 1905 kam es in Moskau zu einem bewaffneten Arbeiteraufstand.

Ab dem 9. Januar 1905 hatten die Werktätigen in Stadt und Land immer drei Forderungen: Achtstundentag, Konfiskation des Bodens und die demokratische Republik. Nieder mit der Selbstherrschaft! – das war ihre erste und wichtigste Losung. Lenin nannte die Revolution von 1905 die „Generalprobe“ für die Oktoberrevolution. Drei Elemente, die für 1917 zentral waren, waren bereits 1905 wirksam: Sowjets in den Fabrikdistrikten, Landarbeiterstreiks und Brandzüge gegen die Gutshöfe, organisiert von Bauernzirkeln. Ohne die gegenseitige Ergänzung von sozialrevolutionären Stadt- und Landbewegungen kann keine Revolution erfolgreich sein.

Robespierre hatte 1793 anlässlich der Hinrichtung Ludwigs XVI. gesagt: „Da ich Mitleid mit den Unterdrückten habe, kann ich kein Mitleid mit den Unterdrückern haben.“ 1843 hatte Marx geschrieben: „Das Prinzip der Monarchie ist die Menschenverachtung, ist der entmenschte Mensch.“¹ Am 9. Januar 1905 wurde dies brutal bestätigt. Kein Monarch fand damals Worte für erschossene Frauen und Kinder. Monarchien hatten und haben kein Mitleid mit unterdrückten Menschen. Heute gibt es immer noch Monarchien in 43 Ländern.

Ihr Reich ist nicht von dieser Welt? Von wegen! Im Licht der Aufklärung betrachtet ist die Befruchtung der gegengeschlechtlichen Ehepartnerin und die nachfolgende Geburt der höchste Staatsakt im Königreich. Die Aufklärung hat das Bestrafungssystem zwar gemildert, doch symbolisch bleibt: Nicht mehr das Abtrennen des Kopfes ist nötig – es genügt, die Eichel abzuhacken.

¹ Vergleiche: M. an Ruge, Briefe aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern, Werke, Band 1, Dietz Verlag.

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Über den Autor:
Heinz Ahlreip, geb. am 28. Februar 1952 in Hildesheim. Von 1975 bis 1983 Studium in den Fächern Philosophie und Politik an der Leibniz Universität Hannover, Magisterabschluss mit der Arbeit »Die Dialektik der absoluten Freiheit in Hegels Phänomenologie des Geistes«. Forschungschwerpunkte: Französische Aufklärung, Jakobinismus, Französische Revolution, die politische Philosophie Kants und Hegels, Befreiungskriege gegen Napoleon, Marxismus-Leninismus, Oktoberrevolution, die Kontroverse Stalin – Trotzki über den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, die Epoche Stalins, insbesondere Stachanowbewegung und Moskauer Prozesse. Ahlreip arbeitete als Lagerarbeiter u. a. bei Continental in Hannover und bis zum Rentenbeginn als Gärtner für Museumsstätten und Friedhöfe.

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