1928 hat Hans Herzfeld in Leipzig ein Buch herausgegeben, das er mit dem Titel versah: `Die deutsche Sozialdemokratie und die Auflösung der nationalen Einheitsfront im Weltkrieg`. Darin wird auf S. 352 (im Anhang) eine am 9. April 1917 unter vier Augen stattgefundene Unterredung zwischen dem zentristischen Sozialdemokraten Haase und dem monarchistischen Chef des Kriegsamtes General Groener wiedergegeben. Zwei Tage zuvor hatte Lenin in Russland seine Aprilthesen verkündigt, in denen er die arbeitenden urbanen und ruralen Massen dazu aufrief, die bürgerlich-demokratische Februarrevolution überzuleiten in eine proletarisch-sozialistische. Darum konnte es in Deutschland in der Vier-Augen-Unterredung zwischen einem General und einem Sozialdemokraten natürlich nicht gehen. Worum ging es an jenem Apriltag? Der General unter dem Kommando von Ludendorff, der jeden Streikenden als Landesverräter bezeichnete, machte dem Sozialdemokraten klar, dass die ständig steigende Produktion von Kriegswaffen oberste Priorität habe. Alle Streiks, insbesondere zum und am 1. Mai, dem Weltfeiertag des internationalen Proletariats sind zu unterbleiben. Er werde von der Schusswaffe Gebrauch machen und Verhaftungen vornehmen lassen. Haase versprach, dafür zu sorgen, dass keine Streiks stattfinden werden. Der Sozialdemokrat bat aber zur Täuschung der Massen, diese Besprechung und sein Versprechen geheim zu halten.
In Russland lag also ein Kurs auf die rote Revolution vor, in Deutschland sorgte die SPD mit ihrem Chefideologen Kautsky für eine konterrevolutionäre Ausrichtung der SPD, und nicht nur sie allein, auch die rechten Gewerkschaftsführer und die meisten Führer der USPD gaben sich volks- und friedensfeindlich. Der USPD-Führer Dittmann ließ verlauten, dass uns der Druck der Massen zuwider sei. (Vergleiche Klaus Mammach, Der Einfluss der russischen Februarrevolution und der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution auf die deutsche Arbeiterklasse, Dietz Verlag Berlin, 1955,61). Wie war es möglich geworden, dass in dem industriell hochentwickelten Deutschland politisch die Dominanz einer Reaktion vorlag, offene Arbeiteraristokraten wie Dittmann das Wort führten, die sozialdemokratisch ausgerichtete Arbeiterklasse den imperialistischen Krieg in einem irrationalen chauvinistischen Taumel befürwortete, aber gegen den Hauptfeind im eigenen Land unter einem Burgfrieden zu Kreuze kroch; in einem Agrarland mit hoher Analphabeten-Quote die Weichen auf die proletarische Revolution, der tiefsten in der Weltgeschichte, gestellt wurde, also das Schauspiel einer Epochenverkehrung zu goutieren ist? Ganz richtig hatte der linke USPD-Abgeordnete Fleißner am 3. Juli 1917 im sächsischen Landtag feststellen müssen, dass heute Deutschland in politischer Beziehung das reaktionärste Land sei, nicht mehr Russland. Russland sei jetzt zum Vorbild für Deutschland geworden. (Vergleiche: Die Ursachen des Deutschen Zusammenbruchs im Jahr 1918, 5. Band, Berlin 1922,165). In der praktischen Politik wurde diese Weitsicht für Deutschland bitter bestätigt, In Russland eine Höherentwicklung der Weltgeschichte durch Lenin und Stalin, in Deutschland Liebknecht “auf der Flucht erschossen“ und Rosa Luxemburg tot im Landwehrkanal.
Begeben wir uns auf die Ursachenforschung. Im zurückgebliebenen Russland war es Lenin unter schwersten Opfern und Rückschlägen, Verrat durch Spitzel (wie Malinowski), Erschießungen, Verhaftungen und Folterungen gelungen, eine stahlharte Partei mit einem harten Kern von Berufsrevolutionären aufzubauen. Als am 25. Februar 1917 (jul.) durch den vom Krieg verursachten Hunger eine Revolution in Petrograd ausbrach, die den Zarismus stürzte, Generäle verhaftete und politische Gefangene befreite, eine Aktion, die die Bourgeoisie wie so oft in der Geschichte durch die eilends vollzogene Proklamierung einer ‘Regierung zur Rettung der Revolution‘ ausnutzte, war eine revolutionäre Kaderpartei vorhanden, die jedoch mit den rasanten Ereignissen nicht ganz Schritt halten konnte. Die historische Forschung bestätigt das, erst als Lenin im April aus dem Exil zurückkehrte, wurden die Konturen klarer und die politische Orientierung bewusst. Er hatte im Exil die Lage besser erfasst als die Kämpfer vor Ort, ohne Zweifel ein Beweis historischer Größe. “Die Revolution siegte, weil die Arbeiterklasse Vorkämpfer der Revolution war und die Bewegung der Millionenmassen der Bauern im Waffenrock – ‘für Frieden, für Brot, für Freiheit‘ – leitete. Die Hegemonie des Proletariats bedingte den Erfolg der Revolution“ (Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (B), Dietz Verlag Berlin, 1955,221).
In Deutschland dagegen, nach dem jungen Marx das klassische Land der Konterrevolution, gab es 1917 keine kommunistische, geschlossen auftretende und geschlossen handelnde Partei. Das deutsche revolutionäre Proletariat stand ohne revolutionäre Führung und ohne revolutionäre Orientierung da, soviel sie auch bestrebt war, von der russischen Februarrevolution zu erfahren und von ihr zu lernen. Am 4. August 1914 erwies sich außer Karl Liebknecht und einigen Getreuen (Clara Zetkin, Rosa Luxemburg (zur Zeit der Februarrevolution in der Festung Wronke inhaftiert), Franz Mehring, Wilhelm Pieck, Leo Jogiches, Fritz Heckert (der oft übersehen wird) die gesamte SPD als eine verfaulte, proimperialistische Partei, denn was anderes beinhaltet denn die Zustimmung zu den Kriegskrediten. Zustimmen muss man auch Rosa Luxemburg, die von der SPD als einem stinkenden Leichnam sprach. Vergessen wir nicht, dass dieser Gestank auch heute die Luft zum freien Atmen in Deutschland durch und durch verpestet. Es gab natürlich schon 1914 Kräfte in der SPD, die etwas rochen, sie sammelten sich am 6. April 1914 in Gotha, es kam zur Abspaltung, zur Gründung der USPD. Und so gibt die Klassenkampfgeschichte Aufschluss: Die Spartakusgruppe, die Sammlung der wirklich revolutionären, internationalistisch ausgerichteten Kräfte in Deutschland, trat am 6. April den Unabhängigen als selbständige Gruppe bei unter der Bedingung der vollen Freiheit der Kritik und der selbständigen Aktion. Das war also die komparative Klassenkampfkonstellation im April 1917: Lenin kommt am 3. April 1917 (jul. Kalender) um 23 Uhr mit dem Zug in Petrograd an, eine geschlossene Partei im Rücken; am 6. April befindet sich das spartakistische Embryo der kommunistischen Partei in Deutschland erst als kleines linkes Anhängsel einer weitgehend konterrevolutionären Organisation. Erst am 30. Dezember 1918 kam es zur Gründung einer kommunistischen Partei. Zu spät, denn ein Bluthund namens Noske zerfraß Karl und Rosa im Küken-Stadium der Partei.
In Deutschland liegt bis heute eine schwere dunkle Last auf seinen Schultern, ein schweres Gemüt lastet auf seinem Kopf, herrührend von der Niederlage der unter Müntzer kämpfenden Bauern 1525. Luthers Reformation hielt zur Innerlichkeit an, der 30jährige Krieg verwüstete das Terrain, ohne dass bis heute überhaupt eine erfolgreiche Revolution zu verzeichnen ist. Der sozialdemokratische Wurzelzwerg, stets faschistisch durchsetzt, widerlich durch seinen ganzen Gestank, ein ekelhaftes perverses Tier, wie Max Landauer ihn nannte, ist dann auch gegen die russische Februarrevolution vor seiner kaiserlichen Obrigkeit strammgestanden, die Arbeiterklasse auf parlamentarische Bahnen einschwörend und durch innere Reformen einer Revolution zuvorkommend. Das ist heute ganz aktuell das politische Gewerbe dieser Zwergmissgeburten. Der Ausdruck ‘Zwergmissgeburt‘ stammt nicht von mir, Marx charakterisiert mit diesem Wort den Ministerpräsident Thiers, der 1871 die Commune abwürgen ließ. Einer proletarischen Revolution in Deutschland ist erst dann die Straße offen, wenn die sozialdemokratischen Thiers im Straßengraben liegen, und zwar so, wie Rosa Luxemburg im Landwehrkanal schwamm.
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Über den Autor:
Heinz Ahlreip, geb. am 28.2.1952 in Hildesheim. Studium in den Fächern Philosophie und Politik an der Leibniz Universität Hannover von 1975 bis 1983, Magisterabschluß mit der Arbeit „Die Dialektik der absoluten Freiheit in Hegels Phänomenologie des Geistes“. Schwerpunkte der Forschung: Französische Aufklärung, Jakobinismus, französische Revolution, Politische Philosophie Kants und Hegels, Befreiungskriege gegen Napoleon, Marxismus Leninismus, Oktoberrevolution, die Kontroverse Stalin – Trotzki über den Aufbau des Sozialismus in der UdSSR, die Epoche Stalins, insbesondere Stachanowbewegung und Moskauer Prozesse.
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Wie wärs, wenn man solche Artikel etwas konkreter fasst und zwar mit einer Kritik an der aktuellen Burgfriedenpolitik der Linken? Diesmal nicht – zunächst noch nicht – zwecks Unterstützung des Krieges der eigenen Bourgeoisie wider die imperialistische Konkurrenz, sondern im „Krieg gegen das Virus“, wie Macron tönt. Also im Bürgerkrieg gegen die Massen. Nämlich als „Gegenrevolution“ (Harcourt). Also jenen Krieg, der sich immer mehr als Tarnung eines anderen Verbrechens entlarvt, nämlich der Produktion von Biowaffen, zwecks Vorbereitung allerdings auf diesen heißen Krieg. Es ist wohlfeil die opportunistische Sozialdemokratie vor 105 Jahren wegen Klassenkollaboration zu kritisieren, wenn man den gleichen Kurs der aktuellen Linken nicht mal erwähnt.