Volkskorrespondenz zum Wochenede
Heinz Ahlreip – 11. Juni 2022
Kommunismus bedeutet, dass die öffentliche Gewalt ihren politischen Charakter verliert. Am Ende des zweiten Abschnitts des Manifestes der Kommunistischen Partei wird dieser zentrale Gedanke markiert, ein Gedanke, der auf den utopischen Sozialisten Saint-Simon zurückgeht, der in seiner 1825 verfassten Schrift ‘Über die Gesellschaftsorganisation‘ den kühnen Gedanken hinwarf, dass ein Gesellschaftszustand möglich sei, in dem die Herrschaft über Menschen durch eine Verwaltung von Sachen und durch eine Leitung von Produktionsprozessen ersetzt werden könnte.
Saint-Simon ist derjenige utopische Sozialist, der von allen Utopisten dem Manifest am nächsten kommt. Saint-Simon hatte eine Schule begründet, die sich, wie es bei Schulen so oft der Fall ist, spalten sollte. Eine von Enfantin angeführte Richtung verflüchtigte sich in einen religiösen Sozialismusdunst und erschöpfte sich alsbald; eine andere Linie aber, die über Bazard, Pierre, Leroux, Carnot, Blanc und Cabet ihren Weg verfolgte, führte an die radikal-sozialistische französische Arbeiterbewegung heran, in der der Gedanke einer zu erreichenden Herrschaftsfreiheit virulent blieb.
Wenn statt Herrschaft über Menschen, was ohne Strafsysteme und Gefängnisse nicht abgeht, nur noch Produktionsprozesse geleitet und Sachen verwaltet werden, dann hat die öffentliche Gewalt in der Tat ihren politischen Charakter verloren. Nur durch die Politisierung aller Lebensbereiche hindurch, die im Verfolg der proletarisch geleiteten Überwindung von Klassengesellschaft alle Poren des gesellschaftlichen Körpers durchdringt, kann es zu einer Art Selbsterschöpfung der Politik kommen. Politik erlöscht mehr und mehr, je mehr Klassengegensätze überwunden werden, Staat und Demokratie einschlafen.
Einen paradiesischen Zustand totaler Harmonie wird es niemals geben, es wird immer vereinzelt zu Ausschreitungen kommen, aber es wird keine Polizei mehr nötig sein, schon gar nicht eine Armee, sondern eine Gruppe zivilisierter Menschen wird Raufende auseinanderbringen “oder eine Frau vor Gewalt schützen“.1
Ohne dialektische Betrachtungs- und Herangehensweise verfallen wir aber auch bei dieser brisanten Thematik ‘Politik‘ dem Wahn bürgerlicher Inhumanität. Die Bourgeoisie hält heute den Umständen der Zeit entsprechend – ohne Wahlen, ohne Massen geht es heute nicht – durchaus zu einer – nennen wir es einmal – ‘Beschäftigung mit Politik‘ an, aber nicht im Sinne des 1825 verstorbenen Saint-Simon, sondern im reaktionären Sinn, dass der Mensch ein Zoon politikon, dass die Politik für den Menschen eine unentrinnbare Schicksalsmacht sei. Sie hat sogar eine Bundeszentale und Landeszentralen für politische Bildung eingerichtet. Dort herrscht aber nicht der Geist Saint-Simons. Statt Verwaltung von Sachen Herrschaft des Produktionsprozesses über die Produzenten, was die endgültige Festschreibung von Politik bedeutet. Diese Zentralen sind auf Ewigkeit angelegt. Die Bourgeoisie sagt: Politisiert so viel ihr wollt, solange ihr nicht dem Gedanken der proletarischen Diktatur und der aus ihr sich ergebender Anarchie anheimfallt. Das ist ganz nach dem Geschmack der kapitalistischen Minderheit in unserem Land. Bürgerliche Politiker sind es, die der Politik ein Limit setzen, nicht auf den Gedanken zu kommen, sich zur Anarchie zu transzendieren. Ist Politik an Klassen gebunden, wie es denn der Fall ist, dann gibt es nicht einfach Politik schlechthin, sondern Politik und Politik. Wir sind für die Freiheit verloren, wenn keine Verdopplung der Politik zu ihrer dialektischen Entfaltung zwecks ihrer totalen Aufhebung mehr vorliegt. Die Politisierung der Massen unter Führung der Arbeiterklasse kann angesichts von Inflation, Mangelernährung, Kinderarmut, Kinder, die hungrig zur Schule gehen, und sich besonders in Afrika abzeichnender bzw. auch bereits vorhandener Hungerkrisen nicht ausbleiben, und diese Politisierung sozusagen von unten wird am Kopf der bürgerlichen Gesellschaft die Eiterbeulen aufplatzen lassen und zu der Erkenntnis im großen Umfang führen, dass die bürgerlichen Berufspolitiker das Krebsgeschwür am Körper des deutschen Volkes sind.
1 Lenin, Staat und Revolution, Werke, Band 25, Dietz Verlag Berlin, 1960, Seite 478.
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