PERSPEKTIVE»online – 15. Mai 2023
Am Sonntag wurde in der Türkei gewählt. Der amtierende Präsident Erdoğan gewinnt nach offiziellen Angaben den Wahlgang mit leichtem Vorsprung, doch es kommt wahrscheinlich zu einer Stichwahl. Im Parlament dominiert aber bereits ein Block faschistischer Kräfte. Der linke Wahlblock “Arbeit und Freiheit” kommt auf 10,5 Prozent bei der Parlamentswahl. Derweil wurden am Wahltag reihenweise Wahlfälschungen und gewalttätige Übergriffe dokumentiert.
Am Sonntag haben in der Türkei gleichzeitig die Präsidentschafts- und Parlamentswahl stattgefunden. Im Vorfeld war die Präsidentschaftswahl bereits als richtungsweisend bezeichnet worden, denn der amtierende Präsident Recep Tayyip Erdoğan (AKP) lag in den Umfragen hinter dem nationalistischen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu von der CHP. Erdoğan hatte Ende letzten Jahres angekündigt, die Wahl vorzuziehen, um sich in der zugespitzten Situation und mit sinkenden Umfragewerten eine bessere Ausgangslage zu verschaffen.
Das „Bündnis für Arbeit und Freiheit“, das neben der linken HDP aus Parteien wie der Arbeiterpartei TIP besteht, hatte keine eigene Kandidaten aufgestellt und stattdessen zur Wahl des Herausforderers Kılıçdaroğlus aufgerufen. Revolutionäre Organisationen wie die MLKP kritisierten dabei die Unterstützung der nationalistischen CHP. Der mit Erdoğan konkurrierende bürgerliche Block um den “Sechser-Tisch”, der von der CHP geführt wird, werde “keine bürgerliche Demokratie etablieren”, denn „eine faschistische Diktatur kann nicht durch Wahlen beseitigt werden“.
Auch in Deutschland riefen Politiker:innen zur Wahl auf, darunter beispielsweise die Grünen-Abgeordnete Ricarda Lang. „Konkret rufe ich zur Wahl von HDP unter dem Dach unserer Schwesterpartei YSP auf“, schrieb sie auf Twitter und richtete sich an die in Deutschland lebenden Wahlberechtigten.
Im Widerspruch dazu steht die grüne Regierungspolitik. So werden unter grüner Regierungsbeteiligung Kurd:innen in die Türkei abgeschoben und kurdische Aktivist:innen hier in Deutschland kriminalisiert. Auch die wirtschaftlichen Beziehungen, die Waffenlieferungen und der Flüchtlingsdeal der EU mit der Türkei drücken eine klare Anerkennung der faschistischen Kräfte rund um Erdoğan aus.
Es wird zur Stichwahl kommen
Während die ersten Hochrechnungen der staatlichen Wahlagentur „Anadolu Agency“ Erdoğan bei weit über 50 Prozent sahen, verkleinerte sich der Vorsprung im Laufe des Abends immer weiter. Am Montagmorgen lag Erdoğan bei knapp über 49 Prozent, während Kılıçdaroğlu auf knapp 45 Prozent kommt. Der dritte Herausforderer Ogan, der Teil eines anderen rechten Wahlbündnisses ist, erhält in etwa 5 Prozent der Stimmen.
Damit könnte Ogan zum “Königsmacher” in der wahrscheinlich kommenden Stichwahl werden. Gegenüber dem Spiegel hat er bereits klar gemacht, dass er Kılıçdaroğlu nur unterstützen werde, wenn dieser die linke HDP aus dem politischen Prozess ausschließe.
Verschiedene Oppositionsparteien kritisierten schon am Abend, dass auf die staatlichen Quellen kein Verlass sei und man von Wahlfälschungen ausgehen müsse. Auch bei der letzten Präsidentschaftswahl hatte Erdoğans Konkurrent in Umfragen vor der Wahl knapp vorn gelegen, bei der Wahl selbst dann aber mit großem Abstand verloren. Die Oppositionspartei CHP veröffentlichte am Wahlabend deshalb stetig eigene Zahlen, bei denen der eigene Kandidat vorn lag. Auch berichteten sie von Cyberangriffen auf ihnen nahe stehende Medien.
Bei der Parlamentswahl, die im Schatten der Präsidentschaftswahl stand, erreichte das Wahlbündnis der AKP unter Erdoğan etwa 45 Prozent, während das von der CHP angeführte Bündnis auf 35 Prozent kommt.
Mit anderen islamisch-fundamentalistischen, rechten und faschistischen Kräften verfügt die AKP nun bereits über die absolute Mehrheit im Parlament.
Die Grüne Linkspartei (YSP), unter deren Banner die Halkların Demokratik Partisi (HDP) zur Wahl angetreten ist, erzielt knapp 9 Prozent der Stimmen und 62 Sitze im türkischen Parlament. Die TIP kommt auf knapp unter 2 Prozent und erhält damit 4 Sitze. Der gemeinsame Wahlblock “Arbeit und Freiheit” kommt damit auf insgesamt 10,5 Prozent. In den kurdischen Gebieten erreichte die YSP in den meisten Städten die absolute Mehrheit.
Vorgedruckte Wahlzettel, verweigerte Stimmabgabe und Gewalt gegen Wahlbeauftragte
Der kurdische Sender ANF News berichtete noch am Wahlabend über zahlreiche Wahlfälschungen und gewaltsame Übergriffe am Tag der Wahl. In der nordtürkischen Stadt Giresun seien Wahlzettel aufgetaucht, die bereits vor der Ausgabe mit Kreuzen für Erdoğan versehen worden seien. An vielen Orten hätten außerdem offene Abstimmungen stattgefunden – ein Verstoß gegen den Grundsatz geheimer Wahlen und ein Versuch von Machtdemonstration der Erdoğan-Anhänger:innen.
In den Städten Amed und Dîlok gibt es tausende bestätigte Fälle von Menschen, die ihre Stimme nicht abgeben durften, da sie – ohne ihr Wissen – zu Wahlbeauftragten oder Wahlvorständen ernannt wurden. Um ihre Stimme dennoch abgeben zu können, hätten sie die Wahllokale aufsuchen müssen, denen sie zugeteilt wurden, außerdem ein offizielles Dokument gebraucht, das auf die Schnelle nicht zu bekommen war.
In Istanbul und Mêrdîn wurden zudem Wahlbeauftragte der türkischen Arbeiterpartei TIP und der Grünen Linkspartei YSP von Anhängern der AKP tätlich angegriffen und mussten im Krankenhaus behandelt werden.
Die kurdische Nachrichtenagentur ANHA berichtete sogar davon, dass Angehörige von Dschihadisten, die in Nordsyrien für den türkischen Staat und gegen die kurdische Befreiungsbewegung kämpfen, in die Türkei gebracht worden seien, um dort ihre Stimme abzugeben. Dafür sei ihnen die türkische Staatsbürgerschaft versprochen worden.
Verschiedene Internationale Wahlhelfer:innen wurden außerdem an ihrer Arbeit gehindert oder sogar verhaftet. So wurde eine aus Deutschland angereiste Delegation der Linkspartei aufgehalten, Wahllokale zu betreten. In der kurdischen Provinz Sêrt wurden zwei Wahlbeobachter aus Spanien bereits früh am Morgen von der Polizei festgenommen. Die internationalen Wahlbeobachter der OSZE waren laut ANF kaum in den kurdischen Gebieten im Einsatz.
Repression und Einschüchterung als Taktik der AKP
In der ganzen Türkei, besonders aber in den kurdischen Gebieten, gab es eine hohe Militär- und Polizeipräsenz, um die Menschen bei der Stimmabgabe einzuschüchtern. Auch paramilitärische Truppen, die die AKP-Regierung unterstützen, waren an einigen Orten bei der Stimmabgabe anwesend.
Bereits im Vorfeld versuchte die Regierung um Präsident Erdoğan, Druck aufzubauen. Besonders gegen sozialistische Kräfte gab es große Repressionswellen. Gegen die HDP läuft weiterhin ein Parteiverbotsverfahren und in den Monaten vor der Wahl wurden viele Mitglieder der Partei festgenommen. Auch die „Sozialistische Partei der Unterdrückten“ (ESP), die Teil des von der HDP angeführten „Bündnisses für Arbeit und Freiheit“ ist, war Ziel des faschistischen Staatsapparats. So wurden wenige Tage vor der Wahl sieben Mitglieder festgenommen.
.
Erstveröffentlichung am 15. Mai 2023 auf »PERSPEKTIVE>>«. Wir danken den Genossinnen und Genossen von »Perspektive« für ihre gute Arbeit und der Genehmigung der Weiterveröffentlichung. Bilder und Bilduntertexte wurden ganz oder zum Teil von der Redaktion »RoterMorgen« hinzugefügt.
.
Lest dazu bitte auch:
.
Lest die Klassiker und studiert den Marxismus-Leninismus!
bestellen | LESEPROBE | …. | bestellen | LESEPROBE |
.
Kontakt: Info@RoterMorgen.eu
.
Antworten