Kurdistan korrekt

Redaktion – 29. April 2021

Journalistische Berichterstattung erfordert nicht nur Fakten, sondern auch eine Sprache, die der Komplexität der jeweiligen Situation gerecht wird. Beim Thema Kurdistan misslingt das in deutschsprachigen Medien häufig noch immer. So werden dann diese unpassenden Begriffe und Formulierungen verbreitet und sorgen für Verwirrung.

Wie man (nicht) über Kurdistan berichten sollte.
Journalistische Berichterstattung erfordert nicht nur Fakten, sondern auch eine Sprache, die der Komplexität der jeweiligen Situation gerecht wird. Beim Thema Kurdistan misslingt das in deutschsprachigen Medien häufig noch immer.

Besonders wenn es um Kontexte von Krieg, Gewalt und Repression geht, muss eine sensible journalistische Berichterstattung auf vieles achten. Dazu gehört nicht nur, Fakten zu überprüfen und Hintergründe zu recherchieren, sondern auch eine Sprache, die der Komplexität der jeweiligen Situation gerecht wird. Beim Thema Kurdistan misslingt das in deutschsprachigen Medien häufig noch immer. Das spiegelt sich etwa in der Verwendung von vagen bis problematischen Begriffen wie „Kurdenpartei“ oder „Kurdenführer“ wider.

Unter dem Titel „Wie man (nicht) über Kurdistan berichten sollte – Ein Leitfaden“ hat die Genossin Hêlîn Dirik gestern einen Text auf »ANF news« veröffentlicht, den wir hier gerne in Auszügen wiedergeben.

„(…) Solange die Bedrohungen und Angriffe, denen Kurd*innen in allen vier Teilen Kurdistans ausgesetzt sind weitergehen (z.B. in Südkurdistan, wo die türkische Armee derzeit einen erneuten umfassenden militärischen Angriff durchführt; oder in Nordkurdistan mit der erneuten Repressionswelle und Verbotskampagne gegen die linke HDP), ist klare und präzise Wortwahl in der Berichterstattung ein Muss. Im Folgenden ist eine Liste von Begriffen, die in diesem Kontext oft verwendet werden, aber stark vereinfachend oder gar ignorant sind und eigentlich leicht vermieden werden könnten. Dazu kommen jeweils alternative Formulierungen, auf die man aus solidarischer Perspektive stattdessen zurückgreifen könnte.

„Kurdenpartei“

Vor etwa einem Monat lasen wir in deutschsprachigen Medien Überschriften wie „Türkei will Kurdenpartei verbieten“ und „Klage gegen Kurdenpartei“. Gemeint war damit die linke HDP (Demokratische Partei der Völker). Auch in den letzten Tagen kamen mit dem Beginn des sogenannten Kobanê-Verfahrens gegen Politikerinnen und Politiker der HDP Meldungen mit ähnlicher Wortwahl: Das ZDF beispielsweise schrieb „Türkei macht 108 Kurden den Prozess“, bevor es schließlich in „Oppositionelle“ umgeändert wurde.

Schon ein Blick auf den ausgeschriebenen Namen der Partei reicht, um zu verstehen, dass es nicht nur um Kurd*innen geht: Die Rede ist von Völkern, da die Region schon immer von vielen verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen bewohnt wurde, und diese Tatsache war von Beginn an im politischen Programm der HDP eingebettet. Die HDP einfach nur „Kurdenpartei“ zu nennen, macht die vielfältige Bedeutung der Partei unsichtbar. Sie tritt für eine diverse und demokratische Gesellschaft ein, in der allen ein Recht auf Selbstbestimmung und Selbstverwaltung zusteht. Die HDP steht für die Solidarität der Völker, ist feministisch und zudem die einzige Partei, die versucht, sich für die Belange und Rechte queerer Menschen einzusetzen. Als die Türkei kürzlich ihren Austritt aus der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung patriarchaler Gewalt verkündete, wurde dies medial kaum mit der Kriminalisierung der HDP verknüpft. Dabei waren sowohl der Austritt aus der Istanbul-Konvention als auch die Verbotsklage gegen die HDP Teil der anti-feministischen, femizidalen und misogynen Politik der Regierung. Die zahlreichen Facetten der HDP anzuerkennen bedeutet also auch, dass solche Zusammenhänge und Tendenzen sichtbarer werden.

An anderen Stellen meint „Kurdenpartei“ auch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Auch hier gilt, dass diese einen internationalistischen Charakter hat und mit dem Projekt des von Abdullah Öcalan entworfenen Demokratischen Konföderalismus eine herrschaftsfreie Gesellschaft anstrebt, die auch über Kurdistan hinaus geht. Schon lange hat der kurdische Befreiungskampf Menschen und Bewegungen aus aller Welt erreicht, und gerade das Internationalistische macht z.B. das basisdemokratische Projekt in Nord- und Ostsyrien aus. Am Aufbau der Selbstverwaltung waren und sind Menschen aus der ganzen Welt beteiligt.

Der Begriff „Kurdenpartei“ ist also in jedem Kontext ungenau und irreführend, denn entscheidend sind die politischen Inhalte. Statt „Kurdenpartei“ könnte man einfach die konkrete Partei nennen sowie ihre politische Haltung, z.B. „die linke HDP“.

„Kurdendemo“

„Was wollen die eigentlich?“ Das könnten sich Leute denken, wenn sie Meldungen über „Kurdendemos“ in Deutschland lesen, denn diese enthalten oft mehr Infos zum Polizeiaufgebot und Ausschreitungen als zu den eigentlichen Inhalten der Demonstration. Zum Beispiel wird nie erwähnt, dass die Demonstration mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem Block aus Frauen und Müttern angeführt wurde, oder dass unter den Demonstrierenden mit Sicherheit Geflüchtete waren, die nun dagegen protestieren, dass ihre Heimat weiterhin belagert wird. Ähnlich wie beim Begriff „Kurdenpartei“ werden auch hier kaum die politischen Inhalte sichtbar. Es geht nämlich nicht einfach um „Kurden vs. XY“, sondern darum, das System hinter den Angriffen auf Kurd*innen anzuprangern und zu bekämpfen. Die ständige Verwendung des Begriffs „Kurdendemo“ erweckt den Eindruck, dass es immer um das Gleiche gehe, dass Kurd*innen eine geschlossene Masse seien und die jeweiligen Inhalte insofern auch nicht nennenswert wären. Wer solidarisch berichten will, sollte im Einzelnen schauen, gegen was demonstriert wird und warum. Das würde auch besser dabei helfen, den konkreten Forderungen Gehör zu verschaffen.

„Türkische Kurden“

Das Nationalstaatensystem hat tief die Art und Weise geprägt, wie wir Menschen bezeichnen und einordnen – zum Beispiel über Staatsangehörigkeiten. Eine kurdische Staatsangehörigkeit existiert nicht, weshalb Kurd*innen beispielsweise in Registern nicht als solche erfasst sind. Kurdische Identität scheint vielen weniger greifbar und ist nicht an einem Dokument abzulesen, und vielleicht tun sich viele deshalb schwer damit, es einfach dabei zu belassen, zu sagen „XY ist Kurd*in“. Denn oft besteht der Zwang, dem noch etwas hinzuzufügen, damit Menschen einen endlich in ihre gewohnten Muster einordnen können. Erst mit „aus der Türkei“, „aus dem Iran“ etc. scheint die Info komplett.

Auch in Berichterstattungen trifft man immer wieder auf Formulierungen wie „türkischer Kurde“. Damit sollen Leser*innen erfahren, aus welchem Teil Kurdistans die betroffene Person kommt, und das ist meist auch relevant und wichtig. Eine solche Formulierung radiert jedoch auch aus, wofür viele Kurdinnen und Kurden beispielsweise in der Türkei und in Nordkurdistan seit Jahrzehnten kämpfen: für die Anerkennung ihrer eigenen vielfältigen Identitäten, Geschichten und Sprachen; sich nicht einer staatlich aufgezwungenen Türkisierung und Assimilierung zu beugen; und dafür, als Kurd*innen, insbesondere auch als alevitische und êzîdische Kurd*innen, selbstbestimmt und frei leben zu können. Eine alternative Formulierung könnte deshalb sein „Kurd*innen aus Nordkurdistan/der Türkei/Anatolien“.

„Kurdengebiete“

Eigentlich ist es sehr einfach. Kurdistan ist in vier Teile geteilt: Der Norden (ku. Bakur) ist türkisches Territorium, der Osten (Rojhilat) iranisches. Mit Westkurdistan (Rojava) ist die Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien gemeint, und im Süden (Başûr) befindet sich die Autonome Region Kurdistan im Nordirak. Meldungen wie „Türkei bombardiert Kurdengebiete“ sind unpräzise und machen einen fundamentalen Aspekt des Angriffs unsichtbar, nämlich dass die Türkei ihren Krieg gegen die Zivilbevölkerung in Kurdistan sowie gegen die kurdische Befreiungsbewegung längst auch außerhalb ihrer eigenen Staatsgrenzen führt. Es handelt sich um militärische Operationen und Invasionen und müssen als solche benannt werden. Anstatt von „Kurdengebieten“ zu sprechen, kann auch einfach die betroffene Region genannt oder in „mehrheitlich von Kurd*innen bewohntes Gebiet in XY“ umgeschrieben werden.

Demonstration zur Unterstützung der befreiten Gebiete in Nord/Ost-Kurdistan, 2019 in Hamburg. Bild: YouTube

„Kurdenführer“ und „Kurden-Chef“

„Kurdenführer“ ist ein weiteres überflüssiges Wort, das eigentlich recht einfach durch ein präziseres und angemesseneres ersetzt werden könnte. Mit „Kurdenführer“ könnte zum Beispiel Abdullah Öcalan, der Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans, gemeint sein. Aber auch Celal Talabanî, ehemaliger Präsident des Irak und bis zu seinem Tod Vorsitzender der Patriotischen Union Kurdistans (YNK), oder der ehemalige Präsident der Autonomen Region Kurdistan, Mesûd Barzanî, sowie der inhaftierte ehemalige HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtaş wurden in deutschen Medien schon als „Kurdenführer“ oder „Kurden-Chef“ beschrieben – und das sind alles schon sehr unterschiedliche Personen. Auch hier würde eigentlich eine kurze Recherche ausreichen, damit politische Entwicklungen weniger vereinfacht und verkürzt dargestellt werden. Zwar müssen Formulierungen manchmal einfach gehalten werden, um einen Sachverhalt schneller und breiter verständlich zu machen. Aber drehen wir es mal um: Wie oft trifft man beispielsweise auf das Wort „Türkenführer“ oder „Franzosenführer“? Oder was ist mit „Engländerpartei“? Oder „Italienerdemo“? Durch solche Umkehrungen wird vielleicht klarer, wie irreführend und inhaltsleer solche Begriffe sind.

„Kurdenmarsch“: Veranstalter kritisieren Berichterstattung – „Wie das Vorbereitungskomitee des internationalistischen langen Marsches für die Freiheit von Abdullah Öcalan mitgeteilt hat, kann die traditionelle Veranstaltung aufgrund der Pandemie nicht wie geplant stattfinden.“ Bild: »ANF news«

Ähnliches gilt für „Kurdenmiliz“, „Kurdenproblem“ oder „Kurdenfrage“. Auf die Problematik solcher Begriffe machen kurdische Aktivist*innen schon seit Jahren aufmerksam. In Hinblick darauf, dass Kurdistan auch in Deutschland ein hoch relevantes Thema ist, sollte die Verwendung angemessener Begriffe für Medienschaffende der mindeste Anspruch sein.“
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