Israels Nakba Forces (INF)

BIP-Aktuell #299a – 9. April 2024

Tamar Amar-Dahl: Warum haben die Kriegsgegner in Israel keine Chance?

Am 28. März veröffentlichte die israelische Zeitung Haaretz diesen Artikel der Berliner Historikerin Dr. Tamar Amar-Dahl, den BIP mit Genehmigung der Autorin ins Deutsche übersetzt hat. Letztes Jahr wurde das neue Buch von Dr. Tamar Amar-Dahl: Der Siegeszug des Neozionismus (Promedia) veröffentlicht.

Mitte Oktober, noch bevor klar war, welche Pläne Israel mit dem Einmarsch in den Gazastreifen verfolgt, fragte der Historiker Yuval Noah Harari die israelische Regierung, worum es bei den Kämpfen genau gehe: „Und wenn diese Regierung davon träumt, den Sieg zu nutzen, um Gebiete zu annektieren, Grenzen mit Waffengewalt zu verändern, Bevölkerungen zu vertreiben, Rechte zu unterdrücken, Stimmen zum Schweigen zu bringen, messianische Fantasien zu erfüllen oder einen halachischen Staat zu errichten, – wir (in der zionistischen Linken) müssen es jetzt wissen. […] Netanjahu, Gantz, Eisenkot und die anderen Chefs der Notstandsregierung – sagen Sie uns sofort, was die langfristigen Ziele dieses Krieges sind, damit wir wissen, wofür wir unser Leben riskieren und opfern sollen“ (Haaretz, 17.10).

Dr. Tamar Amar-Dahl. Sie wird auf der BIP-Konferenz im Mai in Nürnberg sprechen. Quelle: 2023, Tamar Amar-Dahl.

Geschichte als Wünsch-Programm? Fünf Monate nach Beginn des Krieges ist die israelische Rechte ihrem Ziel näher denn je. Die „Zerschlagung der Hamas“ als Endziel auf dem Weg zum „ultimativen Sieg“? Dies ist nicht nur der Slogan von Benjamin Netanjahu. Auch die Öffentlichkeit und die Armee akzeptieren es als ein zentrales Kriegsziel. Noch wichtiger: das Militär  verfolgt eben dieses mit Hingabe und Grausamkeit gegen mehr als zwei Millionen Bewohner des Gazastreifens, von denen die meisten zu Flüchtlingen in ihrem eigenen Land geworden sind.

Aber der laufende Krieg erweist sich als zweischneidiges Schwert auch für das ”vernünftige Israel.” Schon vor dem 7. Oktober – auf dem Höhepunkt der Proteste gegen den Justizumbau – wurde ich (in einem Vortrag über mein neues Buch über den Siegeszug des Neo-Zionismus) gefragt, ob ich glaube, dass die Piloten und Reservisten ihr Wort halten und sich weigern werden, in den Kampf zu ziehen. Ohne zu wissen, welche Katastrophe bevorsteht, lautete meine instinktive Antwort: „Schön wär’s.“ Im Nachhinein habe ich anscheinend nur den Wunsch des israelischen Philosophen, Jeschajahu Leibowitz, wiederholt: „Stell dir vor, es gibt Krieg und keiner geht hin.“

Die Piloten und Reservisten gingen bekanntlich hin, und zwar sofort. Der Gaza-Krieg wird in Israel zweifelsohne als eindeutiger Verteidigungskrieg wahrgenommen. Seine Gegner, falls es welche gab, hatten keine Chance. Weit weniger klar definierte Verteidigungskriege fanden in der Öffentlichkeit breite Unterstützung. Die Auffassung, das Militär sei der Beschützer der nationalen Existenz, gehört zu den Grundlagen der säkularen Religion Israels. Es ist seine DNA. Der Mythos der Sicherheit ist einer der stärksten und hält sich hartnäckig. Dieser Mythos, demzufolge das Militär und seine Politik der Sicherheit dienen, ist auch die Grundlage des israelischen Militarismus.

Der Militarismus in Israel ist schon immer tief aus dem Herzen der Zivilgesellschaft heraus entstanden. Der „Zivilmilitarismus“ – ein von dem verstorbenen Soziologen Baruch Kimmerling geprägter Begriff – erklärt die automatische Unterstützung der Gesellschaft und ihrer Eliten für Israels Kriege, noch bevor deren Ziele klar werden. Inmitten des historischen Ereignisses, als die unüberschaubare Zahl der entführten Zivilisten augenfällig wurde, fragte ich mich, ob die Führung dieses Mal die automatische Kriegsreaktion vermeiden würde, und sei es nur wegen der unmittelbaren Gefahr für das Leben der Geiseln.

Aber der in der politischen Kultur so tief verwurzelte Militarismus machte dies schier unmöglich. Der Krieg wurde als notwendig erachtet. So einfach ist das. Netanjahu und Yoav Gallant ließen mit ihrer Kriegsrhetorik keinen Raum für Zweifel. Selbst die Opposition, die ebenfalls zivilmilitaristisch orientiert ist, unterstützte ihn ohne Einwand. Fünf Monate nach Beginn des Krieges und trotz der enormen Schäden, die er anrichtet, fällt es selbst dem „vernünftigen”, sprich dem ”gemäßigsten” Israel, schwer, sinnvolle Kritik an seiner Fortsetzung zu äußern, einschließlich derer, die sich danach sehnen, ihre entführten Angehörigen aus dem Gazastreifen zurückzubringen. Alle sind Gefangene des Sicherheitsmythos.

Was den israelischen Militarismus in der Tat einzigartig macht, ist das effektive Fernhalten der Zivilgesellschaft von Entscheidungen im Bereich der Sicherheit und sogar von deren öffentlicher Diskussion. Denken Sie an die militärische Zensur, die Politik des Verschleierns und des Leugnens in Bezug auf Atomwaffen (dies ist die wirksamste Politik, um die Diskussion in Sicherheitsfragen zu unterbinden), an die jahrelangen Bombardierungen im Libanon und in Syrien ohne wirksame Kritik an dem Was und Warum. Und zu alledem: ein Ministerpräsident, der sich jahrelang weigert, Interviews [in den israelischen Mainstream-Medien] zu geben und Verantwortung zu übernehmen.

Das kumulierte Ergebnis ist eine schwache Zivilgesellschaft, die faktisch von ihrem Staat und seinem Militär gefangen gehalten wird. Nichts verdeutlicht so sehr wie der gegenwärtige Krieg das Phänomen der gegensätzlichen Interessen in Fragen von Leben und Tod. Es gibt nichts Vergleichbares zum 7. Oktober, um den Vertrauensbruch zwischen der (ohnehin gespaltenen) Gesellschaft und ihren Führern zu verdeutlichen. Letztere nutzen ihre Autorität, um ihre Macht zu erhalten, verlieren dabei doch das Wohl der Gesellschaft gänzlich aus dem Auge und  gefährden die Zukunft Israels. All dies unter dem Deckmantel eines weiteren ”unerlässlichen Krieges”. Hat die israelische Linke begonnen, die Falle des Militarismus, in der sie gefangen ist, zu verinnerlichen? Hat sie die Macht, die Armee aus dem Gazastreifen abzuziehen? Hier beginnt der eigentliche Konflikt, der meines Erachtens von den Verlierern dieses gefährlichen Spiels noch nicht hinreichend verstanden worden ist.

Nach der Konferenz der israelischen Rechten zur Wiederaufnahme der jüdischen Besiedlung im Gazastreifen und den Aufrufen von Itamar Ben Gvir [Minister für nationale Sicherheit] und Bezalel Smotrich [Finanzminister], die Gaza-Bewohner aus dem Streifen zu vertreiben, wurde ich an den Artikel von Yoash Feldash erinnert, der kurz nach dem 7. Oktober schrieb: „Plötzlich, wie von Geisterhand, stehen alle Kämpfer für die Demokratie an ihrer Seite [der Siedler] und rufen dazu auf, den Gazastreifen zu erobern, selbst wenn dies Tausende von Opfern kostet. Er soll zu Staub zermahlen werden, Millionen von Babys, Kindern und Erwachsenen sollen verhungern. Es gibt sogar Leute, die dazu aufrufen, nicht über die Rückkehr der Geiseln zu verhandeln, bis das Gegenmassaker beendet ist. Wie ist es dazu gekommen? Welche giftigen Worte haben die Siedler dem israelischen Mainstream ins Ohr geflüstert? […] Wie konnte es geschehen, dass wir (in der zionistischen Linken) der kranken Vision dieser Leute dienen?“ (Haaretz, 14.10.)

Doch die Nakba, die für Israels rechten Flügel zum Programm gehört, setzen die israelischen Verteidigungskräfte (IDF) um. Die IDF ist es, die Hunderttausende von Gaza-Bewohnern aus ihren Häusern vertreibt und sie zerstört, damit sie nirgendwohin zurückkehren können. Auf dem Weg dorthin tötet eben dieses Militär eine noch nie dagewesene Anzahl von Menschen. Die Israelis können die Rolle ihrer Armee bei der Zerstörung des Gazastreifens weiterhin verdrängen. Sollte aber der messianische rechte politische Flügel seine wilden Träume tatsächlich in die Praxis umsetzen, wird dies ein Ergebnis eines Krieges sein, der mit überwältigender Unterstützung des israelischen Mainstreams geführt wird, inklusiv des ”gemäßigten Israel”. Die Zeitgeschichte hat bereits gezeigt: Der Siegzug des Neo-Zionismus und der messianischen Rechten wäre ohne den israelischen Militarismus kaum möglich gewesen  –  diese zerstörerische Kraft, die Israels blutige Kriege seit Jahrzehnten ermöglicht.

Dr. Tamar Amar Dahl

 
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