Nico Diener – 11. November 2020
Der Münchener Genosse Kerem Schamberger, von Beruf Kommunikationswissenschaftler, reiste mit einer Delegation nach Armenien, um sich über die Lage vor Ort und den Krieg in Arzach zu informieren. Nach seiner Rückkehr schildert er seine Eindrücke und Begegnungen für die Presse.
„Auf Einladung der Armenischen Allgemeinen Wohltätigkeitsunion (AGBU) reiste der Kommunikationswissenschaftler Kerem Schamberger Ende Oktober mit einer internationalen Delegation nach Armenien, um sich vor Ort über den Krieg in Arzach (Bergkarabach) zu informieren.
Schamberger traf viele Amtsträger und Aktivist*innen, aber auch Geflüchtete und stellt fest: „Fast alle Leute, mit denen wir sprechen, betonen, dass sich ihr Hass nicht gegen die türkische Bevölkerung richte, sondern gegen einen Staat und seine Regierung, die auch 105 Jahre nach dem Genozid mit der gleichen Mentalität agiert. Auch Armen Sarkissjan [seit April 2018 Staatspräsident], der uns im Präsidentenhaus empfängt, hebt das hervor und verweist auf die Hunderttausenden, die 2007 zur Beerdigung des linken armenischen Journalisten Hrant Dink in Istanbul gekommen waren. Er war von einem türkischen Faschisten erschossen worden, die Hintermänner des Mordes wurden bis heute nicht belangt.“
Der „Aghet“, wie die Armenier den von den Jungtürken begangenen Völkermord zwischen 1915 und 1916 nennen, ist nach Schambergers Beobachtung im kollektiven Bewusstsein des armenischen Volkes immer noch sehr präsent. Der türkische Staat weigert sich bis heute, den Genozid anzuerkennen.
Es seien die Nachfahren der Täter von damals, die jetzt mit Aserbaidschan die Armenier*innen angreifen und zur Flucht zwingen, stellt Schamberger fest: „Deshalb ist es verständlich, dass in vielen unserer Gespräche der Krieg als Fortsetzung des Genozids beschrieben wird. Damals geschah es mit Maschinengewehren (auch aus deutscher Produktion), Äxten und mit Hunger und Durst, heute mit türkischen Bayraktar-Drohnen, die von Erdogans Schwiegersohn produziert werden, und dschihadistischen Söldnern, die von der Türkei zuvor in Syrien und Libyen eingesetzt wurden.“
In Goris besucht Schamberger Geflüchtete, die in einem Hotel untergekommen sind. Dort leben jetzt vor allem Frauen und Kinder, die geflohen sind, während die Männer ihre Dörfer verteidigen. „Zwei Frauen berichten uns, wie sie die Exekution von gefangen genommenen Bewohnern ihres Dorfes Hadrut im Internet ansehen mussten. Die beiden wurden bei Kämpfen gefasst und sind von aserbaidschanischer Seite hingerichtet worden. Ein Kriegsverbrechen Aserbaidschans, das sich an viele weitere reiht: Die Bombardierung von Krankenhäusern, Kirchen und anderen zivilen Einrichtungen, der Einsatz von Phosphor- und Streubomben, Enthauptungen und Verstümmelung von Leichen.“
Dann wies der Außenminister noch auf die Gefahr für Europa hin, die von den dschihadistischen Milizen ausgehe. Sie stünden im Sold der Türkei und unter ihnen seien mit Sicherheit viele ehemalige Kämpfer des sogenannten Islamischen Staats. Sie hätten die Erlaubnis, alle erbeuteten Waffen zu behalten. Waffen, die vielleicht demnächst bei Anschlägen in Europa zum Einsatz kommen?
Schamberger kommt zu dem Schluss: „Die Bevölkerung Bergkarabachs ist einer ethnischen Säuberung ausgesetzt, die genozidale Ausmaße bekommen kann, wenn der türkischen Regierung und seinem Vasallen Aserbaidschan nicht das Handwerk gelegt wird.“
In seinem Reisebericht kritisiert der Kommunikationswissenschaftler auch das Schweigen der Welt zum Krieg in Arzach und insbesondere die Zurückhaltung in der deutschen Medienberichterstattung. Ohne sich um Details zu kümmern, von wem die Aggression ausging, liest man in vielen großen Zeitungen, dass es weit hinten im „Pulverfass Kaukasus“ wieder knallt. In Zeiten einer Pandemie und US-Wahlen gerät ein Krieg im fernen Armenien zur Nebensache. Man zitiert die „Besorgnis“, die die Bundesregierung wie gewohnt zum Ausdruck bringt. Und selbst wenn man ahnt, dass Erdogan seine Finger im Spiel hat, scheue man sich, die Rolle der Türkei als Kriegspartei klar zu benennen. Schamberger resümiert: „Angesichts der aktiven Rolle Deutschlands beim Völkermord an den Armenier*innen und der daraus entspringenden historischen Verantwortung ist das ein Skandal, der sich mittlerweile in eine lange Reihe von Appeasement-Praktiken einreiht, so dass es schon fast nicht mehr auffällt.“
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Die kaukasische Zwickmühle
Vorliegender Beitrag war vor der Friedensvereinbarung zwischen Aserbaidschan und Armenien, der von Russland vermittelt worden war, bereits fertiggestellt. Die Aussagen des Artikels sind aber durch diese Entwicklung unberührt geblieben. Bisher hat der Wertewesten im Konflikt um Bergkarabach keine eindeutige Position für einen der beiden Kontrahenten bezogen. Eigene Interessen und vorgebliche Werteorientierung machen dieEntscheidung schwierig.Vorgeschichte „Durch einen von Moskau vermittelten Waffenstillstand“ (1)endete1994 der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach. Am Ende dieses Krieges kontrollierte die „armenische Seite Karabach und sieben umliegende Bezirke Aserbaidschans … , aus denen die aserbaidschanische Bevölkerung vertrieben wurde“ (2). Seitdem befinden sich fast 20 Prozent des international anerkannten Territoriums vonAserbaidschan völkerrechtswidrig unter armenischer Kontrolle. Diese widerrechtlich besetztenGebiete hatten sich eigenmächtig zur unabhängigen Republik Karabach erklärt, wobei diese aber nicht einmal von Armenien anerkannt ist.Im Jahr 2007 hatten Russland, die USA und Frankreich als Vermittler im Karabach-Konflikt alsGrundlage die Regelung ausgearbeitet, „dass der endgültige Status von Nagornyj Karabach durch ein Referendum bestimmt werden soll, an dem alle Bevölkerungsgruppen teilnehmen sollen, die vorBeginn des Konflikts dort gelebt hatten“(3).Im Januar 2019 sahen die Außenminister von Armenien und Aserbaidschan die Notwendigkeit„konkrete Maßnahmen zur Vorbereitung der Bevölkerungen auf [den] Frieden zu ergreifen“(4).Vermutlich war das eine Reaktion auf die Veränderung der Kräfteverhältnisse in der Region. Denn seine Einnahmen aus Öl- und Gaslieferung hatten Aserbaidschan in die Lage versetzt, die eigeneArmee aufrüsten und den Druck auf Armenien erhöhen zu können. Zusätzlich wurden die Aseris von den Türken unterstützt, die sich ihnen als Muslime religiös und als Turkvolk ethnisch verbunden fühlen. Bereits im Jahre 2009 hatte die Türkei den „TürkischenRat“ gegründet als Zusammenschluss der Turkvölker in Zentralasien, der „den legitimen Kampf des aserbaidschanischen Volkes für die Befreiung seiner besetzten Gebiete“(5)unterstützt. Vermutlich als Reaktion auf diese Entwicklung hatte Arajik Harutjunjan, De-facto-Präsidenten der völkerrechtlich nicht anerkannten Republik Karabach, am 27.9.2020, also eine Woche vor Ausbruch der Feindseligkeiten, angekündigt, „dass Karabachs Parlament nach Schuscha verlegt werden solle“(6). Diesen Beschluss konnte die aserische Seite nur als Provokation verstehen, da das umstritteneGebiet, besonders aber die Stadt Schuscha nicht nur für die Armenier sondern auch ganze besonders für die Aseri von besonderer historischer und kultureller Bedeutung ist. Hatte es in den vergangenenJahren immer wieder begrenzte militärische Auseinandersetzungen zwischen den beiden Staaten gegeben, so kam es nun zu einem umfangreicheren militärischen Konflikt, der weiterhin anhält.Selbst die von Russland vermittelten Waffenstillstände waren anscheinend nicht von langer Dauer. Veränderte BedingungenSeit dreißig fast Jahren waren in den Verhandlungen der Minsker Gruppe unter Teilnahme vonRussland, Amerika und Frankreich keine wesentlichen Fortschritte im Karabach-Konflikt erreicht worden. Nun hat sich der Wind gedreht im Kaukasus. „Aserbaidschan sei die Verhandlungen satt“(7),erklärte der aserische Regierungschef Alijew. Vermutlich sieht sich Aserbaidschan in der Lage, diesen seit Jahren schwelenden Konflikt nun auf militärischem Wege endgültig zu seinen Gunsten zu entscheiden, nachdem der Weg von
Verhandlungen die illegale Besetzung aserischen Gebiets nicht hatten beenden können. Aserbaidschan steht bezüglich von Verhandlungen auf dem Standpunkt: „Wenn ihr eine Waffenruhe wollt, zwingt die Armenier dazu, die besetzten Gebiete zu verlassen“(8). Angesichts der eigenen Stärke scheint es nur dann ein Interesse an einem Waffenstillstand zu haben, wenn die eigenen Ziele erreicht sind. So erklärte Aserbaidschan, dass es den Feldzug fortsetzen werde, solange Armenien keinen Zeitplan vorlege für den Abzug seiner Truppen aus den besetztenGebieten. Aserbaidschan sieht sich völkerrechtlich im Recht, denn „Aserbaidschan kämpfe auf seinem eigenen Staatsgebiet“(9). Zwischen den StühlenAufgrund seiner neu gewonnenen militärische Stärke und auch in Übereinstimmung mit dem imVölkerrecht verankerten Grundsatz der territorialen Souveränität hat Aserbaidschan in diesem Poker die besseren Karten auf der Hand. Nicht nur die widerrechtliche Besetzung aserischen Staatsgebiets schwächt die Legitimation des armenischen Handelns, auch seine isolierte Stellung macht seineLage schwierig. Der Wertewesten hat sich anscheinend noch nicht entschieden, auf welche Seite er sich stellen soll.Denn eines ist klar: Wegen Armenien dürfte weder die EU, noch die NATO oder gar der Wertewesten insgesamt in einen Konflikt oder gar Krieg mit Russland gezogen werden odereventuell gar mit dem schwierigen NATO-Partner Türkei in zusätzliche Konfrontationen geraten wollen. Ginge es nur nach wirtschaftlichen Erwägungen, wäre die Sache einfach. Da hat der Westen nichtviel von Armenien zu erwarten. Für ihn sind das aserbaidschanische Öl und Gas wichtiger, zumal diese auch noch an dem russischen Pipeline-Netz vorbei nach Europa fließen. Das schwächt dieMonopol-Stellung der russischen Lieferanten, was seit Jahren schon westliches Interesse ist. Aber es geht weniger ums Geschäft, sondern vielmehr um Politik, das heißt um die Veränderung derKräfteverhältnisse. Und da wird es für den Wertewesten schwierig. Durch die „samtene Revolution“des Jahres 2018 sind in Armenien Kräfte an die Macht gekommen, die sich stärker nach Westen hinorientieren. Auf diesem Weg der Loslösung aus russischem Einfluss wird man sie vermutlich nichtalleine lassen wollen nur um der wirtschaftlichen Vorteile willen, die eine Parteinahme fürAserbaidschan mit sich bringen würde.Sicherlich aber dürften auch Überlegungen eine Rolle spielen, den Einfluss des ungeliebten NATO-Partner Türkei in der Region durch eine westliche Parteinahme für Aserbaidschan nicht noch zusätzlich zu stärken. Ohnehin betrachtet man ihr Ausgreifen im Nahen und Mittleren Osten sowie ihre Einmischung in regionale Konflikte zum Schaden des Westens und der NATO mitzunehmendem Unbehagen. Dafür haben die Meinungsmacher mit dem Begriff des Neo-Osmanismus eine eingängige, wenn auch oberflächliche und nichtssagende Erklärung geschaffen. Der Türkei geht es nicht um die Wiedererstehung des Osmanischen Reiches. Das ist dümmliche westliche Interpretation gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklungen, die die Schöpfer solcher Begriffe nicht zu verstehen scheinen. Der Türkei ist in erster Linie an der Erschließung neuer Märkte gelegen, da ihnen ja der Markt derEU weiterhin verschlossen ist. Nichts anderes tun auch die führenden kapitalistischen Staaten imWeltmaßstab nur mit anderen Mitteln(10).Die Qual der WerteWichtiger jedoch als diese taktischen Überlegungen in einer Situation, in der die eigenenHandlungsmöglichkeiten ohnehin begrenzt sind, dürfte für den Wertewesten vielmehr dieWidersprüche sein, in denen er sich im Falle des Kaukasus-Konflikts verheddern könnte. Er, der sich selbst ja gerne als eine Wertegemeinschaft sieht, deren Handeln von Prinzipien und nicht vonInteressen bestimmt sein soll, steht in der Kaukasus-Frage vor der Quadratur des Kreises.
Denn hier prallen zwei seiner politischen Grundsätze aufeinander, die er sonst gemeinhin gerne nutzte, um eigene Interessen durchzusetzen, die aber als solche nicht erkennbar in Erscheinung treten sollten. Denn nach außen ging es bei seinem Handeln immer nur um Ideale und Werte. Aberim vorliegenden Konflikt müssten „die in Widerspruch zueinander stehenden Prinzipien der Selbstbestimmung und der territorialen Integrität miteinander versöhnt werden“(11). Dabei bestehen die Armenier „auf Selbstbestimmung für Nagornyj Karabach, die Aserbaidschaner auf die territoriale Integrität(12). Hier wird es schwierig für Werte-Missionare im Westen. In den bisherigen Konflikten war man immer in der komfortablen Lage, sich einen dieser beiden Werte aussuchen und für die Durchsetzung der eigenen Interessen benutzen zu können, ohne dass die Heuchelei auffiel. Pfiffman im Kosovo-Konflikt auf die territoriale Integrität Serbiens und erklärte das hohe Recht der Selbstbestimmungsrecht der Kosovaren als Motiv des eigenen selbstlosen Handelns, so hatte man dafür im Falle der Katalanen kein Verständnis. Im eigenen Herrschaftsbereich ist dieses hohe Gut des Selbstbestimmungsrechts keinen Pfifferling wert. Da hat die territoriale Integrität Vorrang. Auch der Bevölkerung der Krim räumte man nicht ein, was im Kosovo gegolten hatte. Hier wurde die Volksabstimmung, die unter ähnlichen Bedingungen ablief wie im Kosovo, als Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine gebrandmarkt. Das Selbstbestimmungsrecht der Menschen auf der Krim war den moralisierenden Hohepriestern der Ideale wurscht, weil es den Interessen des Wertewestens nicht in den Kram passte. Denn hier nutzten sie dem ungeliebten Russland, das man doch so gerne in die Zange genommen hätte, hätte man ihm den Warmwasserhafen im Schwarzen Meer abspenstig machen können. Im Kaukasus jedoch steckt man nun in der unangenehmen Lage, nicht mehr nach Belieben und zum eigenen Vorteil zwischen den beiden Prinzipien wählen zu können. Hier muss man Farbe bekennen. Hier gilt es, zu den Werten zu stehen, die man sonst lauthals in die Welt hinausposaunt und nach denen man zu entscheiden vorgibt, wer mit Sanktionen in die Katastrophe getrieben werden soll und wer mit Wohltaten eingewickelt wird. Die Situation ist tragisch. Denn wie man sich auch verhält, man versündigt sich an einem der eigenen Werte. Unterstützt der Wertewesten Armenien, das widerrechtlich aserisches Gebiet besetzt hält, dann verstößt er gegen das hohe Gut der territorialen Integrität. Stellt er sich aber hinter Aserbaidschan, dann verrät er das Ideal des Selbstbestimmungsrechts der Armenier. Was immer er auch tut, der Wertewesten entlarvt sich als jemand, der sich selbst nicht an die Werte hält, die er aller Welt als Maßstab und Ideal verantwortlichen politischen Handelns vorschreibt. Besonnenes Russland Zudem gibt es dummerweise auch keinen Bösewicht, den die westlichen Meinungsmacher verantwortlich machen könnten für das eigenen Handeln, wenn es denn zu offensichtlich den eigenen Werten widerspricht. In solchen Fällen ist es gängiges Muster westlicher Politik, andere dafür verantwortlich zu machen, dass man sich nicht an die eigenen Werte hält. Wenn der Wertewesten seine eigenen Ideale und Werte verrät, dann ist daran die Politik der Widersacher schuld. Sie zwingen ihn durch hinterhältiges Vorgehen, sich nicht an die eigenen Regeln und Ideale halten zu können.Im Kaukasus-Konflikt ist Putin als der bedeutendste Widersacher des Westens nicht zu bewegen, sich auf die Seite einer der beiden Konfliktparteien zu stellen. Das würde es dem Westen erleichtern, sich auf die andere der beiden Seiten zu schlagen. Dann könnte man sich vor aller Welt als Opfer der Putin’schen Politik darstellen, dass sich notgedrungen auf die andere Seite schlagen müsste, quasi als Gegengewicht zum Bösewicht. Schweren Herzens müsste man eines der eigenen Prinzipien opfern, um das andere gegen den russischen Aggressor zu verteidigen. Aber das wäre dann nicht die eigene Entscheidung, sondern eine von außen aufgezwungene. Aber Putin tut ihnen den Gefallen nicht. Leichter ist es da für die westlichen Medien die Türkei als Störenfried darzustellen, die aus den oben beschriebenen Gründen eindeutig Position bezogen hat für Aserbaidschan. Das fällt den Türken leichter, weil sie sich nicht als Werte-Missionare verstehen.
Sie vertreten ihre Interessen und machen daraus keinen Hehl. Das ist bei Russland nicht anders. Sein Interesse ist es, an seiner Südflanke Ruhe zu haben, um es seinen Gegnern im Westen nicht zu ermöglichen, dort Einfluss zu gewinnen und sich später als NATO festsetzen zu können, wie man es 2014 in der Ukraine und 2008 in Georgien ohne Erfolg versucht hatte. Dank der klugen und an den Realitäten orientierten Politik Russlands gerieten diese beiden Expeditionen des Wertewestens zu einem Desaster und führten eher zu einer Schwächung des Westens.Mediale Unterstützung Diese Unentschiedenheit im kaukasischen Poker, besonders was die Haltung Russlands angeht, spiegelt sich wider in der westlichen Berichterstattung. Solange sich Russland nicht für eine der beiden Seiten entscheidet, scheint auch die westliche Presse ihren Konsumenten kein klares Feindbild anbieten zu können oder zu wollen. Immer wieder versucht beispielsweise die Frankfurter Allgemeine Zeitung in ihrer Berichterstattung und ihren Kommentaren den Eindruck zu erwecken, dass Russland sich für eine der beiden Seitenentscheiden müsse. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass sie Einfluss hat auf Russlands Handeln hat, wenn auch sicherlich im Kreml die internationale Presse genau studiert werden dürfte. Dasselbe gilt auch für die anderen am Konflikt Beteiligten wie die Türkei, Aserbaidschan und Armenien. Dennoch reicht der Einfluss der FAZ weit, wie die intensiven Kontakte zu Oppositionellen in derHongkong-Krise 2019 und auch den aktuellen Auseinandersetzungen in Weißrussland zeigen. Sie verfügt über ein weitläufiges Netz von Korrespondenten und Kontaktpersonen in vielen Regionen der Welt, besonders zu solchen Kräften, die ihre politischen Interessen und Ansichten teilen und unterstützen. Sie liefert Informationen, Argumente und Sichtweisen, die in die Beurteilung von Situationen eingehen. Nicht dass die Entscheidungsträger hierzulande und anderswo sich in ihrenEntscheidungen nach ihr ausrichteten, aber Sichtweise der Zeitung wird ernst genommen. Sie bildetMeinungen, indem sie die politische Denkarbeit leistet, zu der die meisten politischen Parteien hier zulande intellektuell und ideologisch nicht mehr in der Lage sind. Deshalb kann sie als das Zentralorgan der herrschenden Klasse in Deutschland angesehen werden. Als eine ihrer wesentlichen Interessen ist der Kampf gegen den zunehmenden Einfluss undAnsehensgewinn Chinas und Russlands zu sehen. Da sie in Russland und China wenig Einfluss auf das Denken der Menschen und Führungskräfte hat, richtet sich ihre Einflussnahme hauptsächlich auf die Medienkonsumenten hierzulande. Diese sollen bei der wertewestlich-demokratischen Stange gehalten werden. Zu diesem Auftrag gehörte beispielsweise die Verhinderung der Ausstrahlung eines zu positiven Beitrags über die Erfolge der chinesischen Regierung in der Corona-Bekämpfung in Wuhan(13).Russlands Stärke Aber Russland tut dem Wertewesten nicht den Gefallen, für eine der beiden Seiten Partei zu ergreifen. Wenn der Wertewesten sich schon aus dem kaukasischen Gerangel notgedrungen heraushalten muss, so wäre es doch auf der anderen Seite wünschenswert, wenn Russland sich tiefer in dem Konflikt verstrickte oder sich vielleicht sogar in einer Konfrontation mit der Türkei verfangen könnte.So versucht die FAZ immer wieder, dem westlichen Leser Konfliktpotentiale im Verhältnis zwischen Russland und der Türkei aufzuzeigen. Besonders in der Berichterstattung über denSyrienkrieg wurden in den Kurdengebieten oder aber in den Auseinandersetzungen um die Region Idlib ständig Konflikte heraufbeschworen, die sich aber nicht zu den Konfrontationen ausweiteten,die man dem westlichen Leser prophezeite. Russland blieb ruhig und löste die Konflikte mit der Türkei auf der Basis des Respekts vor den gegenseitigen Interessen. Dasselbe gilt auch für die unterschiedlichen Interessen in Libyen. Das aber ist eine Politik, die dem Wertewesten fremd ist. Auch in den aktuellen Auseinandersetzungen im Kaukasus ist das Bemühen der westlichen Medien zu erkennen, eine Konfrontation zwischen Russland und der Türkei heraufzubeschwören. Aber trotz des Konfliktpotentials in Syrien und Libyen zwischen den beiden Ländern ist es bisher nicht dazugekommen, dass „die mächtigen Männer in Moskau und Ankara sich darüber verkracht hätten“(14). Russland lässt sich nicht zu unüberlegtem Handeln provozieren und bleibt ruhig. Es versteht sich als Vermittler zwischen den Konfliktparteien. Wenn es auch aufgrund vertraglicher VereinbarungenArmeniens Schutzmacht ist, sieht es sich dennoch nicht zur Erfüllung seiner Schutzverpflichtung aufgerufen, da „die Kämpfe nicht auf dem Gebiet Armeniens“ stattfinden(15).Zudem betont Moskau immer wieder, dass es auch gute Beziehungen zu Aserbaidschan pflege. Im Interesse desFriedens und der Aussöhnung der Völker ist zu hoffen, dass es dabei bleibt.
(1) Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.10.2020: Existenzielle Bedrohung
(2) FAZ vom 31.10.2020: Nagornyj Karabach vor dem Fall
(3) FAZ vom 22.10.2020: Existenzielle Bedrohung
(4) FAZ vom 22.10.2020: Existenzielle Bedrohung
(5) FAZ vom 29.10.2020: Ein Reservoir an Kämpfern
(6) FAZ vom 31.10.2020: Nagornyj Karabach vor dem Fall
(7) FAZ vom 27.10.2020: Waffenruhe in Karabach gebrochen
(8) FAZ vom 27.10.2020: Waffenruhe in Karabach gebrochen
(9) FAZ vom 17.10.2020: Alle Zeichen stehen auf Eskalation
(10) siehe dazu Rüdiger Rauls Zunehmende Entfremdung und Geht-die-nato-am-mittelmeer-baden?(11) FAZ vom 22.10.2020: Existenzielle Bedrohung
(12) FAZ vom 17.10.2020: Alle Zeichen stehen auf Eskalation
(13) Siehe dazu Rüdiger Rauls: Chinesische Zustände
(14)FAZ vom 29.10.2020: Ein Reservoir an Kämpfern
(15) FAZ vom 17.10.2020